Missbrauch evangelische Kirche: Wohl hohe Dunkelziffer
Interview
Aufarbeitung erst am Anfang:Missbrauch: Wo steht die evangelische Kirche?
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Die Evangelische Kirche stehe bei der Aufarbeitung erst am Anfang, sagt die Missbrauchsbeauftragte im ZDF. Die Zahl der Fälle werde aber "deutlich höher" sein als bislang bekannt.
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, hat die evangelische Kirche kritisiert. Es fehle nach wie vor ein transparentes Regelwerk, sagt sie im ZDF.10.12.2023 | 0:20 min
ZDFheute: Wo steht die Evangelische Kirche bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs?
Kerstin Claus: Ich würde sagen, an einem Scheideweg, und im Moment hat sich die Evangelische Kirche entschieden, eine gemeinsame Erklärung mit mir zu unterschreiben, um unabhängige, regionale Aufarbeitungskommissionen zuzulassen.
... ist Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Sie hat das Amt zum 01.04.2022 für fünf Jahre übernommen. Claus engagiert sich seit Jahren haupt- und ehrenamtlich gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen.
Das ist ein immens wichtiger Schritt, damit Betroffene Strukturen vor Ort finden, kirchenunabhängig, wo sie sich melden können, Taten anzeigen können, aber auch anzeigen können, wenn mit früheren Meldungen nicht gut umgegangen wurde, und Täter und Taten nicht verfolgt wurden.
ZDFheute: Warum dauert die Aufarbeitung so lange?
Claus: Eigentlich war der Auftakt 2018 das Hearing der Aufarbeitungskommission bei meinem Amt, wo erstmalig, sowohl die Katholische als auch die Evangelische Kirche beleuchtet wurde, und die eigentlichen, auch öffentlichen Debatten um, was hat die Evangelische Kirche zu tun, sind dann auch tatsächlich erst 2018 gestartet. Acht Jahre Verzug im Verhältnis zur Katholischen Kirche, und das merkt man natürlich auch heute.
ZDFheute: Warum konnte sich die Evangelische Kirche so lange wegducken?
Claus: Der mediale Druck 2010 war sicher sehr viel klarer auf der Katholischen Kirche, als auf der Evangelischen. Es gab gute Erklärungen dafür, warum die Katholische Kirche Spezifika hat, die Missbrauch begünstigen. Der Zölibat, die Ehelosigkeit und verschiedene andere Faktoren.
Die Evangelische Kirche ist lange davon ausgegangen, dass es wenn, dann Einzeltäter waren, die den Raum der Kirche missbraucht haben und tatsächlich Taten an jungen Menschen verübt haben, aber dass sie eigentlich systemisch keine Ausgangsbasis dafür hat, Missbrauch zu begünstigen.
ZDFheute: Was bedeutet diese Haltung für die Betroffenen?
Claus: Das bedeutet, dass Kirche vielfach signalisiert, wir sind genauso betroffen wie du, und dann ist man in einer sehr eigenen Form von Parteilichkeit.
Deswegen ist es so wichtig, dass diese Studie jetzt im Januar veröffentlicht wird und erstmalig zeigt, was sind die Voraussetzungen, die die Evangelische Kirche als Institution bietet, die sexuelle Gewalt an jungen Menschen begünstigt?
Erst wenn ich da hinschaue, werde ich tatsächlich erkennen, was Betroffene, die sich heute melden, brauchen, aber auch, was ich tun muss, um heute Taten zu verhindern.
"Die Katholische Kirche hat einige Sünden angehäuft", so Thomas Söding, Vizepräsident Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Die Absage des Synodalen Wegs könne sich aber ändern.29.06.2023 | 5:25 min
ZDFheute: Was sind die Voraussetzungen, die solche Taten begünstigen?
Claus: Die Evangelische Kirche ist nicht einheitlich.
Das eine, weil Grenzen sehr schnell verwischen. Wir verstehen uns doch so gut, und wir duzen uns, und wenn man intellektuell sich schon so nahe ist, in der Jugendarbeit, dann kann das Körperliche auch nachgezogen werden.
Das autoritäre System ist dann vielleicht ähnlich, auch zum Katholischen, wenn Macht nicht hinterfragt wird, dann können Menschen auch grenzverletzend und -überschreitend agieren, ohne dass eine Gemeinde oder andere Mitarbeitende in der Jugendarbeit dagegen revoltieren und sagen: 'Moment, hier werden Grenzen verletzt'.
Sexueller Missbrauch in der Kirche rückte in Deutschland durch Enthüllungen am Berliner Canisius-Kolleg im Jahr 2010 in den Fokus der Öffentlichkeit. Missbrauchsfälle wurden in der Folge an allen Bistümern sowie zahlreichen Orden aufgedeckt.
Die Deutsche Bischofskonferenz legte Anfang 2011 ein "Verfahren zu Leistungen in Anerkennung des Leids, das Opfern sexuellen Missbrauchs zugefügt wurde". Immer wieder wurde betont, dass es sich dabei um freiwillige Leistungen handelt, ohne Anerkenntnis einer Rechtspflicht.
ZDFheute: Worin unterscheiden sich die Betroffenen von denen der Katholischen Kirche?
Claus: Im Kontext der Evangelischen Kirche haben wir im Moment zwei Gruppen von Betroffenen, die sichtbar geworden sind: Sehr früh Betroffene, im Heimkinder-Kontext, da bin ich mehr im Bereich der Diakonie, und deswegen bin ich so froh, dass die sich mit verpflichtet, über die gemeinsame Erklärung.
Und dann gibt es Betroffene aus dem gemeindlichen Kontext, die überwiegend über die Konfirmandenzeit in ein Näheverhältnis, auch eben zu Kirchenleitungen, zu Priestern, zu Pfarrern gekommen sind. Das sind auch unterschiedliche Interessen.
Den einen wurde Bildung vorenthalten und überhaupt ein adäquater Weg des Großwerdens über die Heime. Die Betroffenen im gemeindlichen Kontext sind sehr allein, weil sie ja Einzelfälle sind.
Das heißt, ihnen wird häufig auch nicht geglaubt, nicht im gemeindlichen Umfeld, aber auch nicht von der Kirchenleitung. Das erschwert tatsächlich Aufarbeitung im evangelischen Raum immens.
ZDFheute: Was fehlt der Evangelischen Kirche für eine gute Aufarbeitung?
Claus: Es fehlt in der Evangelischen Kirche bisher ein klares Regelwerk, ein transparentes Verfahren. Wie gehen wir mit Meldungen um, einheitlich in allen Landeskirchen und im diakonischen Bereich, aber auch, wie leisten wir Anerkennungszahlungen in Fällen, wo sexuelle Gewalt plausibel gemacht wurde von Betroffenen? D
ie Katholische Kirche hat ein übergeordnetes System. Das ist nicht ohne Schwierigkeiten und ohne Mängel, aber es ist ein unabhängiges System. Das fehlt auf evangelischer Seite.
Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, hat ihren Rücktritt erklärt. Sie reagiert damit auf Vertuschungsvorwürfe.20.11.2023 | 3:04 min
ZDFheute: Welche Rolle spielt der Rücktritt der EKD-Vorsitzenden Kurschus für die Aufarbeitung?
Claus: Aus meiner Perspektive zeigt dieser Rücktritt, wieviel Dinge ungeklärt sind, denn es war ja kein kriteriengeleiteter Rückzug. Es war kein Rücktritt, wo man sagt, da sind die Fehler A, B, C und D im Umgang mit Betroffenen passiert, und deswegen ist eine Person nicht mehr tragbar und zieht sich zurück, sondern es war eine Krisensituation.
Öffentlich wurde Glaubhaftigkeit in Frage gestellt, ohne dass man bis heute geklärt hat, welche Fehler Frau Kurschus eigentlich begangen hat. Das heißt, die Evangelische Kirche wird jetzt lernen müssen.
Wir brauchen klare Kriterien, nach denen sich auch Kirchenobere dann verantworten müssen. Aus meiner Perspektive war es die Kommunikation, die die Glaubwürdigkeit von Frau Kurschus in Frage gestellt hat.
Das fand ich schon wirklich irritierend, dass es hier nicht ein klareres Verständnis gab, wie 13 Jahre nach 2010 Kirchenverantwortliche kommunizieren müssen, wenn sie zu Fällen gefragt werden.
ZDFheute: Wie hoch ist die Zahl der Betroffenen?
Claus: Ich gehe davon aus, dass sich viele Betroffene noch melden werden. Wir werden am Ende vielleicht keine Gleichheit der Zahlen haben, das mag durchaus sein. Aber die Fälle und die Fallzahl im evangelischen Bereich wird deutlich höher liegen als das, was bisher öffentlich erfasst ist.
Das Interview führte Dorthe Ferber, Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio.