Grenzüberschreitung in Psychotherapie: Was kann man tun?

    Interview

    Missbrauch in der Therapie:"Scham macht stumm"

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    In einer Krise suchen Menschen Hilfe bei einem Therapeuten - und geraten in einen Alptraum. Andrea Schleu über Missbrauch in der Therapie und wie man sich schützen kann.

    Max Leon steht in Jeans und rosa Hemd seitlich vor einer Wand. Hinter ihm ist sein Schatten an der Wand und Schattenhände, die nach ihm greifen wollen.
    Max Leon bricht das Schweigen: Mit sieben Jahren wurde er von seinem Therapeuten sexuell missbraucht.12.11.2023 | 27:21 min
    ZDFheute: Frau Schleu, Sie kümmern sich um Opfer, die Missbrauch in der Psychotherapie erlebt haben. Ist das Thema ein Tabu?
    Andrea Schleu: Ja, niemand möchte gern Opfer sein, "Opfer" ist heutzutage sogar ein Schimpfwort. Von Missbrauch betroffen zu sein, bringt Verunsicherung, Zweifel, Scham- und Schuldgefühle mit sich. Scham macht stumm. Und Missbraucher manipulieren ihre Opfer dahingehend, dass sie ihnen unter anderem Schweigegebote auferlegen.

    • Duzen von erwachsenen Patient*innen
    • Überziehen oder Verkürzen von Sitzungen
    • scheinbar zufällige körperliche Berührungen
    • Überhöhungen der Person des Therapeuten oder der Methode
    • Sexualisierung, Flirten, Anmache
    • Sexuelle Wünsche einer Psychotherapeut*in
    • Schweigegebote
    • Doppelrollen einer Therapeut*in, beispielsweise Arbeitgeber und Therapeut
    • Rollenumkehr
    • Retterfantasien
    • Wiederholte Äußerungen von Ärger und Zorn
    • Erzählungen eigener Probleme der Therapeut*in
    • Desinteresse von Psychotherapeut*innen
    • Geschenke durch Therapeut*innen, privater Whatsapp-Austausch
    • finanzielle Geschäfte
    • Tätigkeiten für die Psychotherapeut*innen

    ZDFheute: Sind von Missbrauch in der Therapie nur Kinder betroffen oder auch Erwachsene?
    Schleu: Es sind nicht nur Kinder und Jugendliche betroffen. Auch bei erwachsenen Patient*innen besteht eine erhebliche Asymmetrie in einer psychotherapeutischen Behandlung. Diese Asymmetrie bedingt ein strukturelles Machtgefälle, das sich durch die psychische Erkrankung, die seelische Bedürftigkeit, die Kompetenzen der Lebensbewältigung und auch durch die therapiebedingte Abhängigkeit erklärt.
    Weibliche Patienten sind in der erwachsenen Bevölkerung häufiger psychisch erkrankt und sie suchen auch häufiger psychotherapeutische Behandlungen. Von Grenzverletzungen, das zeigt die Auswertung unserer Beratungsdaten, sind überwiegend, nämlich zu 80 Prozent, weibliche Patientinnen betroffen.

    Bei sexuellem Missbrauch sind die betroffenen Patienten zu 80 Prozent weiblich und die beschuldigten Täter zu 88 Prozent männlich.

    Andrea Schleu

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    ZDFheute: Gibt es Zahlen, wie viele Menschen in Deutschland betroffen sind?
    Schleu: Es gibt ein Forschungsgutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 1995 von Professor Fischer und Kolleg*innen, in dem bei konservativer Schätzung von 600 Fällen pro Jahr in Deutschland ausgegangen wurde. Wenn ich die Berechnungen des Gutachtens mit den aktuellen Zahlen von Psychotherapien und Psychotherapeut*innen nachvollziehe, dann muss ich von 1.400 Fällen pro Jahr in Deutschland ausgehen.

    Der Ethikverein ist die einzige Anlaufstelle, die sich in Deutschland um Opfer von Missbrauch in der Therapie kümmert. Laut ihrer Vorsitzenden Andrea Schleu bietet der Verein kostenlose, vertrauliche und wenn gewünscht auch anonym Beratung an.

    In der Beratung wird
    • Situation geklärt, soweit möglich
    • Zu weiteren klärenden Schritten ermutigt
    • Über alternative Beschwerdewege informiert
    • Bei Wunsch eine Folgebehandlung vermittelt
    • Bei der Suche nach Anwälten geholfen

    ZDFheute: Seit 1998 ist Missbrauch in Therapie und Beratung ein Straftatbestand. Hat das Erleichterung für die Opfer gebracht?
    Schleu: Einerseits ja, weil es einen klaren strafrechtlichen Rahmen gibt, andererseits nein, denn Recht haben und Recht bekommen sind zwei verschiedene Dinge. Eine Straftat muss in einem Rechtsstaat in eindeutiger Weise bewiesen werden. Das ist jedoch schwer, denn eine psychotherapeutische Behandlung ist in der Regel eine Zweiersituation, es gibt keine unmittelbaren Zeugen. Dann steht Aussage gegen Aussage, also: im Zweifel für den Angeklagten.
    Auch dann, wenn es andere Belege gibt wie beispielsweise Fotos, Mails, Chatverläufe, wird die Glaubhaftigkeit der Aussagen von Patient*innen vor Gericht durch die gegnerischen Anwälte und oft auch das Gericht selbst in Zweifel gezogen.

    Es besteht gemeinhin die irrige Annahme, dass psychische Erkrankungen grundsätzlich mit Störungen der Wahrnehmung und Erinnerung einhergehen.

    Andrea Schleu

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    ZDFheute: Kein Wunder, dass von den 1.400 Fällen nur vier vor Gericht landen?
    Schleu: Neben den Schwierigkeiten in der Beweisführung und der Infragestellung der Glaubhaftigkeit mit oftmals durch Gerichte beauftragten, sehr unqualifizierten Begutachtungen besteht das weitere Problem der Verjährung.

    Betroffene Patient*innen sind aufgrund des Missbrauchs in der Regel so geschädigt, dass sie erst nach einer erfolgreichen Folgebehandlung in der Lage sind, einen Beschwerde- oder Rechtsweg zu beschreiten.

    Andrea Schleu

    Dann, nach fünf Jahren, sind die Taten schon verjährt.
    Hinzu kommt, dass die Staatsanwaltschaften solche Verfahren sehr oft einstellen, weil sie die Beweislage als ungenügend betrachten. Die betroffene Patient*in erhält in einem solchen Fall die Einstellungsverfügung. Nach Paragraph 153 Strafprozessordnung werden die Ermittlungen wegen Geringfügigkeit der Schuld oder mangelndem öffentlichen Interesse eingestellt. Solche Erfahrungen sind für Betroffene nicht gerade ermutigend.
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    ZDFheute: Wie finde ich denn einen guten und zuverlässigen Therapeuten?
    Schleu: Das ist eine sehr berechtigte Frage, die nicht leicht zu beantworten ist. Zunächst macht es Sinn, eine zugelassene Psychotherapeut*in aufzusuchen, bei diesen haben staatliche Prüfungsämter die grundlegende Befähigung geprüft und die Approbation erteilt. Als Berufsbezeichnung finden sich dann Fachärzt*innen für Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatische Medizin, Fachärzt*innen für Psychiatrie, Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten.
    Dann macht es Sinn, die bis zu fünf Vorgespräche zu nutzen, um für sich selbst zu prüfen, ob man sich verstanden und gehört fühlt, ob man sich mit der Psychotherapeut*in wohl und sicher fühlen kann. Die schnelle Verfügbarkeit von Terminen ist dagegen sicherlich kein sinnvolles Kriterium.
    Wenn sie sich unsicher fühlen, dann sollten Patient*innen zum Vergleich noch einen anderen Therapeuten kontaktieren. Und es ist sinnvoll, Unklarheiten, Fragen und Probleme testhalber anzusprechen und zu prüfen, ob man eine zufriedenstellende Antwort erhält.

    Nach Ansicht von Andrea Schleu braucht es eine Reihe von Maßnahmen und Veränderungen:

    • Das Thema Grenzverletzungen muss sowohl im Medizin- als auch Psychotherapiestudium eingehend behandelt werden.
    • Ebenso gehört das Thema in die Aus-, Weiter- und Fortbildung und zwar nicht allein theoretisch, sondern konkret mit emotionalem Lernen.
    • Aufarbeitung von komplexen Missbrauchsfällen im psychotherapeutischen Kontext
    • Niederschwelliges Beratungsangebot für Betroffene
    • Qualifizierung von Gerichtsgutachtern zum Thema Grenzverletzungen und in der Psychotraumatologie
    • Thema Sexualstrafrecht sollte einen höheren Stellenwert im Jurastudium inne haben.
    • Fortbildungspflichten für Staatsanwälte und Richter zu diesem Thema
    • Verlängerung von Verjährungsfristen für §174c StGB
    • Forschung und Forschungsförderung zu Qualitätssicherung in der Psychotherapie und auch Psychiatrie

    ZDFheute: Kann und darf ich eine Therapie einfach abbrechen?
    Schleu: Dies kann man tun, die Krankenkasse hat nichts dagegen einzuwenden. Patient*innen können anschließend auch eine neue Therapie beantragen. Anders lautende Einschüchterungen sind unzutreffend.
    Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein sofortiger Abbruch in jedem Fall sinnvoll ist. Besser ist es, sich Rat zu holen und einen Versuch zu starten, Unklarheiten, Unsicherheiten und Fragen zu klären.

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    FAQ
    Das Interview führte Stephanie Schmidt.

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