Schwere Vorwürfe: Liest Netflix Ihre Facebook-Nachrichten?
FAQ
Vorwurf des Datenmissbrauchs:Liest Netflix Ihre Facebook-Nachrichten?
von Kevin Schubert
|
Die Vorwürfe wiegen schwer: Seit Jahren sollen Facebook und Netflix Daten austauschen - darunter private Nachrichten. Was bekannt ist.
Kläger in den USA erheben Vorwürfe gegen Netflix und Facebook.
Quelle: Reuters
Stellen Sie sich vor, Sie schreiben eine private Nachricht bei Facebook - und Netflix liest mit. Genau das wirft eine Kartellklage in den USA dem Facebook-Mutterkonzern Meta vor, wie aus neu freigegeben Gerichtsdokumenten hervorgeht. Worum es im Detail geht, was Meta dazu sagt und was das potenziell für Nutzer bedeutet - ein Überblick.
Mit dem Gesetz für digitale Märkte öffnet die EU-Kommission den Wettbewerb rund um die großen Gatekeeper wie Google, Apple oder Amazon. Alternativen werden einfacher angeboten.07.03.2024 | 2:03 min
Was genau wird Meta und Netflix vorgeworfen?
Laut Klägern führen Facebook und Netflix "seit fast einem Jahrzehnt" eine "besondere Beziehung". Demnach hat Netflix eine Reihe von Vereinbarungen über die gemeinsame Nutzung von Daten mit Facebook abgeschlossen und "maßgeschneiderten Zugang zu privaten Facebook-APIs" erhalten.
Darunter soll auch eine sogenannte "Inbox API"-Vereinbarung fallen, die Netflix ab 2013 über eine programmierte Schnittstelle Zugriff auf die privaten Posteingänge von Facebook-Nutzern ermöglicht haben soll. Im Gegenzug soll auch Netflix bestimmte Nutzungsdaten mit Facebook geteilt haben.
Der führende Kopf hinter der engen Partnerschaft beider Unternehmen soll Netflix-Gründer Reed Hastings gewesen sein, der zwischen 2011 und 2019 auch Mitglied im Facebook-Aufsichtsrat war.
Die Vorwürfe stammen aus einem Ende März freigegeben Gerichtsdokument. Das Dokument ist Teil einer größeren Kartellklage, "Klein v. Meta Platforms", die unter anderem vom US-Bürger Maximilian Klein eingereicht wurde. Das Schreiben datiert auf den 14. April 2023, ist aber erst Ende März 2024 öffentlich geworden.
"Meta hat die privaten Nachrichten der Nutzer nicht mit Netflix geteilt", teilt ein Meta-Sprecher ZDFheute auf Anfrage mit. Die Vereinbarung habe Nutzern lediglich erlaubt, aus der Netflix-App heraus Freunden auf Facebook mitzuteilen, was sie sich gerade ansehen. "Solche Vereinbarungen sind in der Branche gang und gäbe", die Beschwerde sei "unbegründet".
Netflix antwortete zunächst nicht auf eine Anfrage.
2,1 Milliarden Nutzer hat das weltgrößte soziale Netzwerk täglich. Doch Facebook steht immer wieder heftig in der Kritik. Nach 20 Jahren: Ein Blick zurück und nach vorn.04.02.2024 | 2:51 min
Wie brisant sind die Vorwürfe?
Hochbrisant, sagt Manuel Atug. Er ist IT-Sicherheitsexperte und spricht von einer möglichen "Win-Win-Situation" für Netflix und Facebook, einer "Lose-Lose-Situation" für Bürger. Konzerne wie Meta versuchten Bürger "gläsern zu machen, um genau zu wissen, was jemanden antreibt, was er will, was man ihm andrehen könnte, um noch mehr Werbeeinnahmen zu erzielen".
Der IT-Sicherheitsexperte betont: "Datenschutz ist ein in der Verfassung garantiertes Grundrecht, das man nicht aus Spaß erfunden hat." Es gehöre zur Würde des Menschen, darüber bestimmen zu können, welche Informationen wann und wo über ihn verfügbar seien. Auch wenn das vielleicht etwas "hochtrabend" klinge, sagt Atug, sei für ihn klar: "Datenschutz ist eines von vielen Grundrechten, die wir haben, die in der Kombination garantieren, dass wir selbstbestimmt in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung leben können."
Der US-Konzern Facebook riskiere die Sicherheit der User und gefährde die Demokratie - diesen Vorwurf machen die Journalistinnen Cecilia Kang und Sheera Frenkel im Buch "Inside Facebook". Die Autorinnen sprachen mit rund 400 Mitarbeiterinnen.04.10.2021 | 3:17 min
Gerade die Selbstbestimmung sieht Atug angegriffen, wenn Konzerne persönlichen Daten missbrauchten, um Konsum-Entscheidungen aufzuzwingen. "Das ist manipulativ, da werde ich fremdgesteuert", sagt Atug. "Datenschutz ist Menschenschutz: Er schützt die Menschen hinter den Daten."
In Deutschland sind persönliche Daten und damit auch private Nachrichten durch die europaweit geltende DSGVO geschützt. Grundsätzlich ist die Weitergabe der Daten nur in Ausnahmefällen erlaubt, beispielsweise wenn eine Einwilligung der Nutzer vorliegt. Der Austausch von Nutzerdaten zwischen großen Plattformen kann unter Umständen zudem einen Missbrauch von Marktmacht darstellen. Das Bundeskartellamt hatte beispielsweise 2019 Facebooks Muttergesellschaft Meta untersagt, Daten ihrer konzerneigenen Dienste wie WhatsApp oder Instagram zusammenzuführen.
Von Jan Henrich, Redakteur in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.
"Sollte Facebook Netflix Zugriff auf die privaten Nachrichten seiner Nutzer gegeben haben, könnte das ein Verstoß gegen das Fernmeldegeheimnis darstellen", sagt Steve Ritter, Vorstand der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit (GDD) ZDFheute.
Der im fraglichen Zeitraum geltende § 88 des Telekommunikationsgesetzes (TKG) hätte Anbietern von Telekommunikations-Diensten verboten, unbeteiligten Dritten den Inhalt oder die Beteiligten einer Kommunikation offenzulegen. "Netflix wäre in der Kommunikation von Facebook-Nutzern ein unbeteiligter Dritter." Nach deutschem Recht käme dann mit der Gewährung des Zugriffs auch eine Strafbarkeit wegen Verletzung des Telekommunikationsgeheimnisses nach § 206 StGB seitens der Beteiligten bei Facebook in Betracht.
"Soweit Facebook und Netflix untereinander Daten ausgetauscht haben, wird es komplizierter", sagt Ritter. "Hier kommt es dann auf die genauen Umstände an." Grundsätzlich sei ein Datenaustausch nach geltendem Datenschutzrecht zum Beispiel dann zulässig, wenn die betroffenen Nutzer wirksam darin eingewilligt haben. "Notwendig wäre unter der seit 2018 geltenden DSGVO jedenfalls eine informierte Einwilligung: Die Betroffenen müssten also über Zweck, Art der Daten und Empfänger der Daten informiert worden sein." Im Hinblick auf die teilweise vereinbarte Vertraulichkeit der API-Agreements erscheine ihm zumindest fraglich, ob den jeweiligen Nutzern transparente Informationen über den Datenaustausch gegeben worden seien. "Für eine endgültige Bewertung fehlen aber noch Informationen", stellt Ritter klar.
"Datenschutzrechtlich ist die Zusammenarbeit von Netflix und Facebook sicherlich spannend", sagt GDD-Vorstand Steve Ritter. "Denn auch hier ist die Frage, ob die Nutzer in eine solche Verarbeitung durch beide Unternehmen wirksam eingewilligt haben." Die DSGVO erlaube zwar Datenverarbeitern auch dann eine Verarbeitung, wenn zwar keine Einwilligung vorliege, die Verarbeitung aber für die Wahrung berechtigter Interessen erforderlich sei. "Die Verbesserung der Targeting- und Rankingmodelle von Facebook kann ein solches berechtigtes Interesse darstellen."
Voraussetzung sei jedoch, dass "die Grundrechte der betroffenen Nutzer dieses Interesse nicht überwiegen". Sollten dafür Daten aus der Messaging-App und damit dem Fernmeldegeheimnis unterliegende Daten verwendet worden seien, "dürfte ein Überwiegen der Grundrechte der Nutzer anzunehmen sein", erklärt Ritter.
"Insofern könnte es sich bei dieser Zusammenarbeit um datenschutzrechtlich unzulässige Verarbeitungen handeln, wenn die beiden Unternehmen keinen anderen Rechtfertigungsgrund für die Verarbeitungen anführen können." "Zu beachten ist, dass diese datenschutzrechtliche Einschätzung zu den beiden letzten Punkten für die Verarbeitungen gilt, die nach Geltung der DSGVO (Mai 2018) stattfanden und Nutzer aus der EU betreffen", macht Ritter deutlich.
Was hätte Netflix davon, Privatnachrichten zu lesen?
"Da geht es um mehr Macht - und mehr Geld", sagt Atug. Wie das mit privaten Chats zusammenhängt? "Private Nachrichten sind die ehrlichste Form der Kommunikation", erklärt Atug, "und manchmal auch die einzige." Wer äußere sich schon öffentlich schonungslos ehrlich zu jeder Serie oder jedem Film?
Chats mit Freunden oder Verwandten könnten für Konzerne wie Netflix da eine Goldgrube sein, sagt der IT-Sicherheitsexperte. "Wie oft wird Netflix erwähnt? Wie oft die Konkurrenz? Welche Themen oder Serien werden wirklich diskutiert? Wie kommt es an, wenn Netflix ankündigt, die Preise zu erhöhen?" Antworten auf diese Fragen könnten Netflix bei strategischen Entscheidungen enorm helfen - etwa bei der Themenauswahl oder Preisgestaltung.
Mark Zuckerberg wird mit Facebook zu einem der reichsten Männer der Welt. Doch die Kritik an dem sozialen Netzwerk und dem von ihm angerichteten gesellschaftlichen Schaden wächst.15.11.2023 | 44:43 min
"Wenn ich aus den Nachrichten herauslese, dass die Abonnenten bereit sind, eine Preissteigerung mitzugehen, kann ich natürlich besser ausloten, wie ich das Maximum heraushole", sagt der IT-Sicherheitsexperte.
Was hätte Facebook von so einer Partnerschaft?
"Facebook ist kein Tech-Konzern, Facebook verkauft Werbung", sagt Atug. Je mehr Zeit Nutzer auf der Plattform verbringen, desto mehr Werbung könne ausgespielt werden. Je erfolgreicher die Werbung sei, desto mehr Geld erhalte Facebook.
"Facebook versucht deshalb herauszufinden, was dich emotional berührt, damit du möglichst lange auf der Plattform bleibst", sagt Atug. Und: "Facebook versucht herauszufinden, wofür du dich interessierst, um dir Werbung für Produkte auszuspielen, die du höchstwahrscheinlich gut findest - aber eigentlich gar nicht brauchst." Atug spricht in dem Zusammenhang auch von "Manipulation".
Netzpolitik-Gründer Markus Beckedahl sieht Facebooks Problem vor allem im Geschäftsmodell der personalisierten Werbung.04.02.2024 | 5:11 min
Die Daten von Netflix könnten Meta helfen, sowohl Interessen als auch Emotionen ihrer Nutzer noch besser einzuschätzen. "Was schauen Männer, was schauen Frauen, welcher Film ist in welcher Altersgruppe beliebt: Das sind Daten, mit denen du Werbung besser verkaufen kannst", sagt Atug.
Wie weiß ich, ob ich potenziell betroffen bin?
Aus dem Gerichtsdokument geht nicht hervor, ob die vorgeworfenen Vereinbarungen nur für den US-Markt oder global getroffen wurden. IT-Sicherheitsexperte Atug weist darauf hin, dass sowohl Facebook als auch Netflix "zu 100 Prozent" Daten über Nicht-Nutzer vorliegen hätten. Er geht davon aus, dass die Vorwürfe alle Nutzer direkt und Nicht-Nutzer indirekt betreffen.
Ein nicht mehr genutzter Account oder verlorenes Interesse: Es gibt viele Gründe, sein Konto bei Facebook, Instagram und Co. zu löschen. So werfen Sie digitalen Ballast ab.