Was wir retten konnten

Die Bilder vom Hochwasser in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Juli 2021 wurden weltweit gesehen. Laut Deutschen Wetterdienst fielen zum Teil 150 Liter Regen pro Quadratmeter in den betroffenen Regionen, acht Meter hoch stand das Wasser an manchen Stellen. 180 Menschen verloren ihr Leben. Als ich als Journalistin in den Tagen nach der Flut durch die Gebiete reiste, konnte ich die Verwüstung, das Maß der Zerstörung, die eingestürzten Brücken, weggerissenen Straßen, zerbeulten Autos, die Verzweiflung der Menschen kaum ertragen. Solche Bilder kannten wir vom Tsunami in Thailand 2004, das so etwas in Deutschland möglich werden würde, war bis dahin fast unvorstellbar. Ich erinnere, dass ich vor einem riesigen Berg von Waschmaschinen und Wäschetrockner stand, alle unbrauchbar geworden in den Wassermengen, die in Windeseile die Keller geflutet hatten. Jede Waschmaschine eine Familiengeschichte. 91.000 beschädigte Wohnhäuser, 40.000 ramponierte Autos, fast 250.000 Schadensfälle bei den Versicherern.

Überall waren Politiker unterwegs und versicherten schnelle und vor allem unbürokratische Hilfe zu. 30 Milliarden – eine unvorstellbare Summe – wurden für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt. Das klang erstmal gut und hilfreich. Vor allem auch richtig.

Leider ist die Realität anders. Leider zeigt sich, dass die deutschen Genehmigungsverfahren, die behördlichen Vorgaben, und auch die Forderungen und Verfahren der Versicherungen mit verantwortlich dafür sind, dass an vielen Stellen wenig voran ging. Leider mussten und müssen darunter immer noch viele Menschen und Familien, viele Geschäfte und UnternehmerInnen leiden.

Drei Familien begleiten wir während unserer zwei Jährigen Langzeit-Dokumentation:

Familie Erler aus Kall verliert ihr Einfamilienhaus. Kann man es sanieren oder muss es abgerissen werden? Die Gutachter streiten. Die Versicherung sagt, man kann das Haus retten. Der Gutachter der Familie ist anderer Meinung. Zwei Jahre lang begleiten wir die Familie bei diesem Streit, den Begutachtungen, den Unsicherheiten.

Optikerin Nora Nechad verliert das Familien-Geschäft und ihr Wohnhaus. Mit ihrem Mann Soufyan kann die Unternehmerin und Mutter von zwei Kindern zwei Jahre lang übergangsmäßig im Haus ihrer Eltern leben. Aber die finanzielle und emotionale Belastung ist enorm. Es ist schwer Wohnraum zu finden, weil viele Flut-Betroffene auf der Suche nach einer neuen Bleibe sind. Und auch eine Rückkehr in ihr altes Geschäft wird im Laufe der Dreharbeiten immer unwahrscheinlicher. Wir dokumentieren, wie Handwerkermangel, Lieferengpässe und Genehmigungsverfahren die Neuinvestition erschweren, worunter die gesamte Infrastruktur der Stadt leidet.

Und auch die zweijährige Kamera-Begleitung des Rentner-Paares Rosemarie und Hans-Joachim macht deutlich, woran es nach der Flutkatastrophe hakt: das Paar muss viel länger in einem Provisorium ihres Fluthauses leben, als für die beiden verträglich. Fehlende Gutachter, streitende Gutachter und widersprüchliche Gutachten erschweren die Renovierungspläne.

Einen besonderen Menschen durften wir noch über diesen langen Zeitraum begleiten. Eine Frau, die als Gemeindereferentin arbeitet, und heute zölibatär in einer geistlichen Gemeinschaft lebt und arbeitet: Schwester Roswitha aus Bad Münstereifel. Ich würde sie die „Die gute Seele des Ahrtals“ nennen. Sie arbeitet in der katholischen Kirche, aber sie fragt nie, ob jemand an Gott glaubt oder nicht, ob jemand konfessionell gebunden ist oder nicht.

Schwester Roswitha versteht sich als Seelsorgerin, die überall da sein will, wo jemand Unterstützung sucht oder Unterstützung braucht. Mal mit Worten, mal mit Kontakten und auch mal mit Geld. Hunderttausende hat die ehemalige Nonne, die aus einem Orden ausgetreten ist, um direkter am Menschen arbeiten zu können, in den letzten zwei Jahren im Flutgebiet gesammelt. Gelder von Menschen, die ihr die Spenden anvertraut haben, weil sie vermuten, dass die Gemeindereferentin es gut verteilt.

Dreißig Minuten Film reichen nicht aus, um all den betroffenen Frauen und Männern Platz zu schenken, die sich während unserer Dreharbeiten Schwester Roswitha und auch unserer Kamera geöffnet haben. Und doch hoffen wir, dass wir auf diese Weise ein Dokument der Menschlichkeit behalten haben. Die Arbeit von Schwester Roswitha und den vielen hunderten von Helfern, die den vergangenen 24 Monaten im Ahrtal mit angepackt haben und füreinander da waren, zeigt wieder einmal, wie gut und wichtig es ist, wenn Menschen uneigennützig und solidarisch zusammenkommen.

Wenn die Profitsuche, der Eigennutz, die Bequemlichkeit und der Komfort verdrängt werden für den Blick auf menschliche Nöte. Wenn wieder klar wird, das echtes Interesse, ehrliche Anteilnahme, tatkräftige Hilfeleistung, Mitdenken und Mitfühlen immer noch ein unersetzlicher Wert sind.  Ein Wert, der auch unseren Behördenapparat mit all seinen Auflagen, Regelungen und Bestimmungen in die Grenzen weisen sollte. Er ist Menschen gemacht und kann von Menschen verändert werden.