"Es gibt Regierungen, die im Moment die Grenzen ausreizen"

In der Europäischen Union müssen Veränderungen stattfinden, um die Glaubwürdigkeit zu wahren, findet EU-Experte Frank Baasner. Einige Länder würden derzeit die „nationale Karte“ spielen. Doch Europa müsse sich bei großen Themen wie Grenzschutz, Migration oder Bankenunion auf gemeinsame Punkte einigen, so Baasner.

EU-Flaggen in Brüssel
EU-Flaggen vor dem Berlaymont-Gebäude in Brüssel
Quelle: dpa

ZDFonline: Herr Baasner, kann man von einem „Rechtsruck“ in der Europäischen Union sprechen?

Frank Baasner: Was man auf jeden Fall sagen kann ist, dass es Bewegungen in vielen Mitgliedsländern gibt, die die „nationale Karte“ wieder stärker spielen. Einerseits aus einer grundsätzlichen Europa-Skepsis heraus. Andererseits, weil Europa einfach unter seinen Möglichkeiten bleibt. Wenn man es nicht schafft, Entscheidungen zu übergreifenden Themen wie Flüchtlings- und Asylpolitik oder Grenzsicherheit zu treffen, ist es doch in gewisser Weise logisch, dass kritische Stimmen lauter werden. Wir haben heute die weitverbreitete Annahme, die EU kümmere sich nur um unwichtige Dinge und ließe die großen Entscheidungen unangetastet. Das ist ein Missverhältnis, auf dem nationale Gedanken sehr gut gedeihen können.

Trotzdem kann man diese Entwicklung nicht pauschalisieren. Die meisten Länder unterscheiden sich in ihren Motiven und Ausgangssituationen.  Diese sind ökonomischer, geographischer und historischer Natur. Es macht zum Beispiel einen Unterschied, wenn ein EU-Mitgliedsland eine gemeinsame Grenze mit Russland hat oder in Mitteleuropa liegt. Weiterhin gibt es innerhalb der EU auch traditionelle Auswanderungsländer und solche Länder, die schon seit Jahrzehnten Gastarbeiterströme oder sonstige Migrationsformen erlebt haben. Vor dem Hintergrund dieser vielen Unterschiede ist es naturgemäß schwierig, eine gemeinsame Sprache zu finden.

ZDFonline: Man kann leicht den Eindruck gewinnen, einige EU-Länder entwickeln sich politisch von demokratischen hin zu mehr autoritären und repressiven Regierungen. Herrscht ein zunehmendes Demokratiedefizit in der EU?

Baasner: Es gibt Regierungen, die im Moment die Grenzen dessen ausreizen, was im Rahmen der Europäischen Verträge möglich ist. Das sind zum Beispiel Polen und Ungarn. Hier hat sich zwischen den EU-Institutionen und den besagten Ländern ein Streit entwickelt, da die EU nun prüfen möchte, inwieweit deren neuen Gesetze - zum Beispiel größere Kontrolle von Rundfunk und Justiz - noch im Einklang mit dem europäischen Werte- und Rechtskanon stehen können.  Die Situation ist neu, dass Sanktionen kein Mittel sind, ist allen Beteiligten klar. Dementsprechend ist es ein schwieriges Verfahren, das der EU gewisse „Bauchschmerzen“ bereitet, jedoch auf jeden Fall nötig ist.

ZDFonline: In der Grundrechtecharta des EU-Vertrages von Lissabon findet man unter anderem Begriffe wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz. Besteht denn die Wertegemeinschaft der Europäischen Union mit Blick auf die von Ihnen beschriebenen Entwicklungen weiterhin?

Baasner: Dazu muss man sich vergegenwärtigen, welche Bedeutung dem Begriff Werte überhaupt zukommt. Werte stellen für mich Orientierungsgrößen dar, die das Zusammenleben von Menschen betreffen und Entscheidungen beeinflussen. Die Diskussion über gemeinsame europäische Werte ist wichtig, sie beeinflusst auch die Gesetzgebung. Nur sind Werte allein nicht justiziabel. Sie können Begriffe wie Toleranz oder Respekt nicht juristisch verwerten. Dementsprechend sind Werte eine ideelle, unser Leben aber sehr stark prägende Größe.

Wenn wir im Zuge der Diskussion über europäische Werte etwa das Asylrecht als Wert hochhalten wollen, dann muss der Weg dahin führen, Einwanderung in die Europäische Union vernünftig zu organisieren.

ZDFonline: Wie kann eine solche Flüchtlingspolitik aussehen? Und wie geht man mit Ländern um, die jegliche Aufnahme von Flüchtlingen strikt ablehnen, etwa Ungarn?

Baasner: Indem man grundsätzlich nach drei Kategorien unterscheidet: Zum einen die Menschen, die politisches Asyl verdienen, da sie in ihrem Heimatland verfolgt werden. Dann die Flüchtlinge, die nach der Genfer Konvention in anderen Ländern Schutz erhalten, weil in ihrem Land Krieg herrscht, wie in Syrien oder Afghanistan. Und die dritte Gruppe, die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben, Arbeitsplätze oder sonstigen Gründen aus ihrem Herkunftsland emigrieren. Derzeit vermischen wir all diese Gruppen beim Thema Asyl, das ist ein Problem. Schaffen wir es, diese Gruppen zu trennen, wäre eine Diskussion über ein gemeinsames Einwanderungsgesetz möglich.

Nüchtern betrachtet hat Viktor Orban in Ungarn in den letzten Jahren eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik betrieben, dem Land geht es nicht schlecht. Aber auch hier wird irgendwann wie vielerorts in Europa das Thema Fachkräftemangel aufkommen, wofür Migration dann sehr wichtig sein kann. Dazu bedarf es dann aber eines europäischen Einwanderungsgesetzes. Der Reflex muss seitens der EU kommen, das endlich organisieren zu wollen.

ZDFonline: Muss sich die EU einer Grundsatzdiskussion stellen? Sich womöglich sogar „neu erfinden“?

Baasner: Im Rahmen der bestehenden Verträge gibt es sicherlich die Möglichkeit, Dinge zu verbessern. Ein großer Punkt ist sicher das Einstimmigkeitsprinzip, das nach wie vor oftmals Entscheidungen verhindert. Man kann sich die Frage stellen, ob es denn wirklich sinnvoll ist, dass zwei kleine Länder große Veränderungen in der Europäischen Union verhindern können, also ein klares Vetorecht haben. Hier müssen die Verträge ganz klar geändert werden, hin zu einem Mehrheitsprinzip. Wenn man weiterhin nicht in der Lage ist, weitreichende Entscheidungen als Europäische Union zu vollziehen, wird noch mehr Glaubwürdigkeit verloren gehen und die Frage nach der Daseinsberechtigung einer solchen Institution stärker werden, nicht nur von Ländern, die auch jetzt schon sehr kritisch eingestellt sind.

ZDFonline: Wie sieht die Europäische Union der Zukunft aus?

Baasner: Wir befinden uns wieder an einem historischen Scheideweg. Eine Grundsatzdebatte, wie jüngst von Emmanuel Macron angestoßen, muss geführt werden. Hier sehe ich Deutschland ganz stark in der Verantwortung. Wenn man sich bei großen Themen wie Grenzschutz, Migration oder Bankenunion auf gemeinsame Punkte einigen kann, wenn man die Bereitschaft dazu aufbringen kann, dann wird auch der Glaube der Menschen in die EU zurückkehren.

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