Lage in Grenzgebiet schwierig: Wo kommt Erdbebenhilfe an?

    Lage in Grenzgebiet schwierig:Wo kommt die Erdbebenhilfe an?

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    Erdbeben machen vor politischen Grenzen nicht Halt. Die internationale Hilfe wird durch die Lage im syrisch-türkischen Grenzgebiet extrem erschwert. Tausende warten auf Hilfe.

    • Ein schweres Erdbeben der Stärke 7,8 hat am Montagmorgen die türkisch-syrische Grenzregion getroffen.
    • Die Zahl der Opfer ist nach aktuellen Angaben insgesamt auf mehr als 11.700 Tote gestiegen.
    • In der Türkei starben laut Präsident Erdogan 9.057 Menschen, in Syrien wurden 2.662 Tote gezählt.
    • Zahlreiche Menschen werden noch unter Trümmern vermisst.
    • Präsident Erdogan rief in zehn Provinzen den Notstand aus.

    Mindestens 11.000 Menschen haben bei der Erdbeben-Katastrophe in der Türkei und Syrien ihr Leben verloren. Und die Schreckensmeldungen neuer Opferzahlen dürften auch zwei Tage nach dem Unglück nicht abreißen.

    Suche nach Verschütteten dauert an

    Fieberhaft suchen Helfer derweil weiter nach Menschen unter den Trümmern. Ein Kampf gegen die Zeit - und gegen eisige Temperaturen. Vor Ort erschwert zudem die politische Lage die Hilfen - so etwa am einzigen offenen Grenzübergang Bab al-Hawa zwischen der Türkei und Syrien. Wegen Straßenschäden verzögere sich dort die Lieferung humanitärer Hilfe, sagten UN-Quellen der Deutschen Presse-Agentur.
    Der Nothilfekoordinator der Hilfsorganisation Care, Marten Mylius, erklärte im ZDF-Morgenmagazin, man verstärke die Hilfe im syrischen Erdbebengebiet über bereits laufende Programme in Kliniken und den großen Zeltstädten für Binnenvertriebene.
    Die Hilfe laufe nicht über die syrische Regierung in Damaskus, sondern erfolge direkt von der Türkei in den Nordwesten Syriens. Allerdings sei es derzeit nicht möglich, dorthin zu gelangen.

    Unsere erste Priorität ist im Moment Leib und Leben unserer 450 Mitarbeiter im Südosten der Türkei.

    Marten Mylius, Care-Nothilfekoordinator

    Sehen Sie hier das ganze Interview mit Marten Mylius:
    Marten Mylius, Nothilfekoordinator der Hilfesorganisation "Care Deutschland"
    "Unsere Hilfsgüter gehen nicht über die Regierungsgebiete, sondern direkt von der Türkei in den Nordwesten von Syrien."08.02.2023 | 6:12 min
    Aus der Gegend des Grenzübergangs hieß es, einige Hauptstraßen auf dem Weg zur Grenze hätten durch die Beben Risse oder andere Schäden erlitten. Bab al-Hawa ist der letzte von einst vier Grenzübergängen, über den Hilfen auch in die Teile Syriens gelangen können, die nicht von der Regierung kontrolliert werden.

    Berichte über Bereicherung in Syrien

    Hilfsgüter, die über die Hauptstadt Damaskus ins Land kommen, werden von der Regierung von Präsident Baschar al-Assad verteilt. Es gab mehrfach Berichte darüber, dass die Regierung sich daran selbst bereichert - etwa durch den Verkauf ans eigene Volk - oder dass bei der Verteilung Gebiete übergangen werden, die die Regierung als verfeindet betrachtet. Der Grenzübergang gilt deshalb als Lebensader für die Menschen im Nordwesten des Landes.
    Die Lage in Nordsyrien ist dramatisch, schildert Hasan Alam, Teamchef der Hilfsorganisation Hihfad. Am Abend vor dem Beben ist er mit seinem Team in der Region Idlib angekommen. Im ZDF beschreibt er die Lage vor Ort:

    Medizinisches Material fehlt, Matratzen fehlen, Unterkünfte, Laken, es gibt keinen Strom, keinen Treibstoff - es fehlt wirklich alles. Die Situation ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Desaster.

    Hasan Alam, Hilfsorganisation Hifad in Syrien

    Der türkische Botschafter in Berlin, Ahmet Basar Sen, sagte betroffenen Syrern Hilfe seines Landes zu. "Wir solidarisieren uns auch mit dem syrischen Volk", sagte er im ZDF Morgenmagazin. "Die Türkei hilft den Syrern, sowohl auf der türkischen Seite als auch auf der anderen Seite der syrischen Grenze."
    Ahmet Başar Şen, türkischer Botschafter in Deutschland
    "Das Ausmaß der Zerstörung ist so groß, dass in 10 Provinzen fast 15 Millionen Menschen davon betroffen sind", so Ahmet Başar Şen, türkischer Botschafter in Deutschland.08.02.2023 | 6:18 min
    [Helfer berichten indes, dass die Türkei trotz der Erdbeben Kurdengebiete in Nordsyrien bombardiert.]

    Vorwürfe an Präsident Erdogan

    In der Türkei rückt aus dem Ausland immer mehr Unterstützung an. So ist am Morgen ein 50-köpfiges Team des Technischen Hilfswerks (THW) zum Hilfseinsatz in Gaziantep im Südosten der Türkei eingetroffen. Ihre Aufgabe sei es, verschüttete Menschen zu orten, zu retten und erstzuversorgen, sagte der Sprecher des THW-Landesverbandes Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Michael Walsdorf. Helfer der deutschen Organisation I.S.A.R. waren unterdessen an der Rettung einer verschütteten Frau beteiligt, wie die Organisation mitteilte, die in der heftig getroffenen Stadt Kirikhan nahe der türkisch-syrischen Grenze hilft.
    Der türkische Oppositionsführer warf Präsident Recep Tayyip Erdogan Versagen beim Krisen-Management vor. "Wenn jemand hauptverantwortlich für diesen Verlauf ist, dann ist es Erdogan", sagte Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei CHP, in einem Video, das er am frühen Mittwochmorgen auf Twitter teilte. Erdogan habe es versäumt, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf solch ein Beben vorzubereiten.

    Spendenaufruf des Aktionsbündnis Katastrophenhilfe
    Quelle: ZDF

    Hier die Kontonummer zum Kopieren: IBAN: DE65 100 400 600 100 400 600

    Wetterlage lässt Hilfsflüge zu

    Nach Angaben von Vizepräsident Oktay sind rund 16.150 Rettungs- und Suchteams im Einsatz - sie seien in alle betroffenen Provinzen und Bezirke entsandt worden. Insgesamt seien rund 60.000 Helfer vor Ort. Mehr serien unterwegs, teils auf dem Luftweg. Die Wetterbedingungen ließen solche Flüge zu, was die Arbeit erleichtere.
    Jetzt könnten auch Hubschrauber fliegen, berichtet ZDF-Korrespondent Jörg Brase, was die ersten beiden Tage nach dem Beben nicht der Fall gewesen sei.

    Das heißt, es können jetzt auch Rettungsteams in etwas entlegenere, schwer zugängliche Regionen geflogen werden.

    Jörg Brase, ZDF-Korrespondent

    ZDF-Korrespondent Jörg Brase
    "Positiv ist zudem, dass sich über 60.000 Freiwillige gemeldet haben, die jetzt den Rettungskräften helfen können", so ZDF-Korrespondent Jörg Brase aus Istanbul.08.02.2023 | 4:01 min
    Im Erdbebengebiet der Türkei bemüht sich die katholische Caritas um formelle Genehmigungen für Hilfeleistung. Man wolle "nicht Gefahr laufen, Vorschriften zu verletzen", sagte der Leiter der Caritas in der Osttürkei, John Farhad Sadredin, dem italienischen katholischen Pressedienst SIR. So habe man zwei Lastwagenladungen mit Hilfsgütern, die am Dienstag in Izmir an türkischen Westküste eingetroffen seien, an Regierungsstellen übergeben müssen.

    Caritas: Verständnis für Bürokratie

    Am Mittwoch solle es ein Treffen mit einem Vertreter der Provinzregierung in Iskenderun geben, um die Erlaubnis zu erhalten, Decken zu verteilen, so Sadredin. Die Caritas wolle zudem formell darum bitten, Mahlzeiten ausgeben zu dürfen. Der Direktor des katholischen Hilfswerks äußerte Verständnis für die bürokratische Regelung; andernfalls drohe "Chaos, wenn manche zu viel und andere nichts kriegen".
    ZDF-Reporter Sven Rieken
    ZDF-Reporter Sven Rieken beobachtet eine enorme Solidaritätswelle in Hamburg für die Erdbebenopfer. "Wir haben aufgerufen zu Geldspenden, das hilft am schnellsten", so Murat Kaplan, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Hamburg.08.02.2023 | 4:24 min
    Für viele Menschen kam indes jede Hilfe zu spät. Am Mittwoch stieg die bestätigte Zahl der Todesopfer in beiden Ländern auf über 9.500. Mehr als 41.000 Menschen wurden verletzt. Alleine in der Türkei gibt es laut der Behörden 6.957 Tote und 37.000 Verletzte zu beklagen. In Syrien starben laut dem dortigen Gesundheitsministerium sowie der Rettungsorganisation Weißhelme 2.547 Menschen.
    Das Epizentrum lag nach Angaben des Geoforschungszentrums Potsdam in beiden Fällen nahe der Stadt Gaziantep unweit der Grenze zu Syrien.
    Das Epizentrum lag nach Angaben des Geoforschungszentrums Potsdam in beiden Fällen nahe der Stadt Gaziantep unweit der Grenze zu Syrien.
    Quelle: ZDF

    Temperaturen um den Gefrierpunkt

    Die Bergungsarbeiten sind ein Rennen gegen die Zeit: Die kritische Überlebensgrenze für Verschüttete liegt normalerweise bei 72 Stunden - so lange kann ein Mensch in der Regel ohne Wasser überleben. Temperaturen um den Gefrierpunkt machten den Überlebenden im Katastrophengebiet zusätzlich zu schaffen, viele haben kein Dach mehr über dem Kopf.
    Die Suche nach Überlebenden ist ein Wettlauf gegen die Zeit - ZDFheute live berichtet aus dem Katastrophengebiet:
    Mit einer Stärke von 7,7 bis 7,8 hatte das Beben am frühen Montagmorgen das Gebiet an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien erschüttert. Am Montagmittag folgte dann ein weiteres Beben der Stärke 7,5 in derselben Region. Tausende Gebäude stürzten ein.

    Syrien: Viele Familien unter Trümmern vermutet

    Retter in Syrien vermuten, dass noch immer Hunderte Familien unter den Trümmern begraben sind. Eines der am schwersten betroffenen Gebiete in dem Land ist die von Rebellen kontrollierte Region Idlib.
    Quelle: dpa, ZDF, KNA

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