Türkei und Syrien: Warum das Erdbeben so verheerend war

    Türkisch-syrisches Grenzgebiet:Warum das Erdbeben so verheerend war

    Jan Schneider
    von Jan Schneider
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    Die Kombination aus großer Stärke und geringer Tiefe machen die Erdstöße in der Türkei und Syrien so zerstörerisch. Es gibt Dutzende Nachbeben. So schätzen Experten die Lage ein.

    Die Opferzahlen nach dem schweren Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet steigen immer weiter. Nach vorläufigen Angaben sind mehr als 2.300 Menschen in der Türkei und Syrien ums Leben gekommen, Tausende wurden verletzt. Allein im Südosten der Türkei stürzten Tausende Gebäude ein - auf Videos aus mehreren Städten waren teilweise völlig zerstörte Straßenzüge zu sehen.

    Wie stark war das Beben?

    Die Erschütterungen waren bis in den Libanon und nach Zypern zu spüren - und laut Dänemarks geologischem Institut sogar bis Grönland messbar.
    Das Epizentrum des Bebens lag nach Angaben der US-Erdbebenwarte in der Nähe der Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt Gaziantep, rund 60 Kilometer von der Grenze zu Syrien entfernt in 17,9 Kilometern Tiefe und hatte eine Stärke von 7,8. Damit setzte es etwa 250 mal so viel Energie frei wie etwa das Erdbeben der Stärke 6,2 vom 24. August 2016 im italienischen Amatrice, bei dem etwa 300 Menschen ums Leben kamen.
    Das Epizentrum lag nach Angaben des Geoforschungszentrums Potsdam in beiden Fällen nahe der Stadt Gaziantep unweit der Grenze zu Syrien.
    Quelle: ZDF

    Die Kombination aus großer Magnitude und geringer Tiefe macht das aktuelle Erdbeben laut Experten extrem zerstörerisch. Die höhere Magnitude und damit größere Energiefreisetzung führt außerdem zu einer viel größeren betroffenen Fläche.

    Von den tödlichsten Erdbeben in einem bestimmten Jahr waren nur zwei in den letzten zehn Jahren von gleicher Stärke und vier weitere in den zehn Jahren davor.

    Joanna Faure Walker, Leiterin des UCL Institute for Risk and Disaster Reduction in Großbritannien

    Wie groß ist die Erdbebengefahr in der Türkei?

    Die Türkei liegt in einer der aktivsten Erdbeben-Regionen der Welt: Das Land hat in den letzten 50 Jahren viermal das tödlichste Erdbeben weltweit erlebt (2020, 1999, 1983 und 1975).
    Es waren aber nie die Erdbeben mit der größten Stärke - da nicht nur die Stärke entscheidend ist für die Opferzahl, sondern auch die Dichte der Bevölkerung in dem betroffenen Gebiet und auch der Bauqualität und -praxis.

    Warum bebt die Erde in dieser Region?

    Die grundlegende Ursache dieses Erdbebens ist die plattentektonische Bewegung, erklärt David Rothery, Professor für planetare Geowissenschaften. Die Kollision der Arabischen Platte nach Norden in Eurasien zwinge die dazwischenliegende Anatolische Platte mit einer Geschwindigkeit von etwa zwei Zentimetern pro Jahr nach Westen.
    Aufgrund der Reibung, die dabei entlang der Bruchlinien entsteht, ist die Bewegung nicht glatt, sondern es baut sich lokal über Jahre oder Jahrzehnte eine Spannung auf, bis die angesammelte Spannung stark genug ist, um den Widerstand zu überwinden, und Gesteinsmassen mit einem plötzlichen Ruck aneinander vorbeischnappen.
    In diesem Fall war die Gewalt der Erschütterungen an der Oberfläche stark genug, um Gebäude zum Einsturz zu bringen, und für große Zerstörung zu sorgen.

    Wie sieht es mit dem Erdbebenschutz aus?

    Erdbeben können nicht genau vorhergesagt werden. Um schlimme Folgen zu vermeiden, ist daher eine erdbebensichere Infrastruktur und eine effiziente Reaktion entscheidend. "Die widerstandsfähige Infrastruktur in der Südtürkei und insbesondere in Syrien ist leider lückenhaft, sodass die Rettung von Menschenleben jetzt hauptsächlich von der Reaktion abhängt", erklärt Carmen Solana, Dozentin für Vulkanologie und Risikokommunikation an der Universität in Portsmouth, Großbritannien.

    Die nächsten 24 Stunden sind entscheidend, um Überlebende zu finden. Nach 48 Stunden nimmt die Zahl der Überlebenden enorm ab.

    Carmen Solana

    Viele der Gebäude in den betroffenen Städten sind für diese starken Erschütterungen nicht ausgelegt, und in Syrien sind viele Strukturen bereits durch mehr als ein Jahrzehnt Krieg geschwächt.
    Im Jahr 2004, nach der Verwüstung durch das Erdbeben in Izmit 1999, verabschiedete die türkische Regierung ein neues Gesetz, das verlangt, dass alle Bauten modernen erdbebensicheren Standards entsprechen müssen.

    Es wird nach dem jüngsten Ereignis wichtig sein, dies zu überprüfen für alle seit diesem Datum errichteten Gebäude, und zu prüfen, ob die Anforderungen ausreichend sind und ob es Möglichkeiten gibt, die Sicherheit älterer Gebäude zu verbessern.

    Joanna Faure Walker, Leiterin des UCL Institute for Risk and Disaster Reduction in Großbritannien

    Spendenaufruf des Aktionsbündnis Katastrophenhilfe
    Spendenaufruf des Aktionsbündnis Katastrophenhilfe
    Quelle: ZDF

    Wie lange ist mit Nachbeben zu rechnen?

    Die Nachbeben des heutigen Ereignisses dauern noch an, die Behörden zählten bis jetzt mehr als 100 Nachbeben, eines davon sogar mit einer Stärke von 7,5.

    Nach dem Hauptbeben gibt es oft Dutzende erheblicher Nachbeben, die noch Tage andauern werden, Rettungs- und Hilfsmaßnahmen behindern und möglicherweise zum Einsturz bereits beschädigter Gebäude führen werden.

    Bill McGuire, emeritierter Professor für Erdwissenschaften

    Das heutige Beben hat viele Gemeinsamkeiten mit einem Erdbeben im September 1822 in der Region, bei dem viele Städte vollständig zerstört wurden, meint der Geologe Roger Musson. Nachbeben soll es damals noch bis in den Juni des folgenden Jahres hinein gegeben haben.
    Quelle: Mit Material von AFP

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