Sehnsuchtsort Europa: Ein Kontinent schottet sich ab

    Sehnsuchtsort Europa:Ein Kontinent schottet sich ab

    von Julia Rech und Ulf Röller
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    Jahrelang stritt die EU: Nun hat sie einen Kompromiss gefunden, der die Migration begrenzen soll - ohne dabei die europäischen Menschenrechte mit den Füßen zu treten.

    Ulf Röller
    Das EU-Parlament stimmt über ein gemeinsames europäisches Asylsystem ab, das die Migration in die EU begrenzen und steuern soll. Gibt es daran auch Kritik, Ulf Röller? 10.04.2024 | 1:27 min
    "Sich auf den Weg zu machen, ist unser Schicksal", sagt Angelou Happyvidar. Er kommt aus Nigeria und nennt sich selbst Präsident. Sein Reich ist das Camp 30, ein Zeltlager, das 30 Kilometer entfernt von Tunesiens Küstenstadt Sfax liegt.
    Unter Olivenbäumen haben tausende Migranten Zuflucht gefunden. Angelou Happyvidar, der Präsident, sieht sich als Sprecher der vielen Afrikaner, die aus mehr als 15 Ländern kommen und nach Europa wollen.

    Wir haben so viel zu bieten, wir haben so viel Talent. Wo immer wir uns niederlassen, sind wir ein Gewinn für die Menschen.

    Angelou Happyvidar, selbsternannter "Präsident" eines tunesischen Zeltlagers

    Sie alle warten auf eine Gelegenheit, ein Boot zu finden, das sie nach Lampedusa bringt. Denn Europa ist nur 190 Kilometer entfernt von Tunesiens Strand. Dort verrosten Boote, die Zeugen misslungener Fluchtversuche.

    Krisen und Kriege bewegen Hunderttausende zur Flucht

    Der Migrationsexperte Gerald Knaus sieht eine riesige Fluchtwelle auf Europa zukommen, "die größte seit dem 2. Weltkrieg". Der Krieg im Gazastreifen, die Armut in Afrika, die humanitäre Krise im Sudan, die desolate Wirtschaftslage in Ägypten bringen viele hunderttausend Menschen dazu, sich auf den Weg nach Europa machen.
    Auf einem Boot sind duzende Flüchtlinge.
    Das EU-Parlament stimmt über eine Asylreform ab. Die Mitglieder wollen illegale Migration begrenzen und Asylbewerber besser unter den einzelnen Ländern aufteilen.10.04.2024 | 0:22 min
    Europa will verhindern, dass sie hier ankommen. Unermüdlich reist deshalb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Tunesien oder nach Ägypten, verspricht den sogenannten Transitländern viel Geld, wenn sie Flüchtlinge aufhalten.
    Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer, der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi, der zyprische Präsident Nikos Christodoulides, der belgische Ministerpräsident Alexander De Croo und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni während ihres Gipfeltreffens in Kairo.
    Die EU hat mit Ägypten einen neuen Deal beschlossen: Ägypten soll Menschen von der Flucht über das Mittelmeer in die EU abhalten - im Gegenzug erhält das Land 7,4 Milliarden Euro.17.03.2024 | 1:32 min

    Grenzschutzagentur Frontex soll mehr Personal und Boote bekommen

    Aber dies ist nur einer von vielen Schritten. Europa baut mehrere Schutzzonen auf. Frontex, die europäische Grenzschutztruppe, soll mehr Personal und mehr Boote bekommen, um die Außengrenze besser vor illegaler Migration zu schützen.
    Und der Migrationspakt sieht Grenzverfahren an den Außengrenzen vor. Wer aus Ländern mit einer niedrigen Anerkennungsquote kommt, muss seinen Asylantrag in einem Auffanglager stellen. Dort wird sein Antrag im Schnellverfahren behandelt. Der Vorteil aus Sicht der EU: Er reist gar nicht erst nach Europa ein.

    Strafzahlungen bei Aufnahme-Verweigerung

    Die, die Asyl bekommen, werden auf die einzelnen EU-Länder verteilt. Solidaritäts-Mechanismus nennt sich das. Wer sich weigert, wie Ungarn bereits angekündigt hat, muss Strafe zahlen.
    Die EU-Kommissarin Johansson, die für Migration zuständig ist und den Migrationspakt verhandelt hat, spricht von einem historischen Kompromiss, der Europa vor illegaler Migration schützt, ohne die Menschenrechte einzuschränken.
    Gerald Knaus zugeschaltet via Zoom
    Die Lösung illegaler Migration bestehe nicht in Kontrollen, die nicht wirken würden, sagt Migrationsforscher Knaus. Die Außengrenzen würden in das "Zentrum der Debatte" gehören. 31.08.2023 | 16:49 min

    Abstimmung über Migrationspakt könnte knapp werden

    Aber das sehen nicht alle so. Die Abstimmung am Mittwochnachmittag im Parlament über den Migrationspakt könnte knapp werden. Für viele Grüne ist das Gesetz zu hart, es schränke das Asylrecht zu sehr ein, Menschenrechte blieben auf der Strecke. Einigen Konservativen geht der Pakt nicht weit genug, der Abschreckungseffekt sei zu gering.
    Und dann gibt es noch die Zweifel der Experten, ob der Migrationspakt wirklich das Problem löst. Was passiert mit den Flüchtlingen, die kein Bleiberecht haben? Abschiebungen sind schwierig, denn viele Heimatländer nehmen ihre Bürger nicht zurück. "Daran ändert das Gesetz nicht wirklich etwas", erklärt Migrationsexperte Knaus gegenüber dem ZDF.

    Das Problem löst es nicht.

    Gerald Knaus, Migrationsexperte

    Archiv: Asylbewerber stehen am 17.07.2014 in der zentralen Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in Zirndorf
    Schnellere Abschiebungen, Asylzentren außerhalb der EU, Bezahlkarte für Flüchtlinge: Was ist eigentlich aus den Beschlüssen von Bund und Ländern zum Thema Migration geworden?28.01.2024 | 4:08 min
    Kurzfristig soll der Migrationspakt vor allem dem Wähler in Europa signalisieren, dass die Regierungschefs verstanden haben. Die Willkommenskultur ist Geschichte, mit harter Hand soll Migration kontrolliert werden. Mit dieser Botschaft hoffen viele in Brüssel, den Wähler bei den Europawahlen gnädig zu stimmen und den Rechtspopulisten ein Thema wegzunehmen.
    Ob diese Rechnung aufgeht, weiß keiner. Bis 2026 soll der Migrationspakt in Kraft treten und voll funktionieren. Aber da sind die Europawahlen schon lange vorbei.

    Verschärfte Regeln
    :EU-Parlament stimmt für Asylreform

    Jahrelang wurde über das Asylrecht gestritten - nun hat das EU-Parlament für eine Reform gestimmt. Grundsätzlich werden die Regeln für Asyl und Migration restriktiver.
    Migranten drängen sich an Deck des Patrouillenboots CP327 der italienischen Küstenwache, als es im Hafen von Lampedusa (Italien) einläuft, aufgenommen am 18.09.2023

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