Politische Gewalt nimmt zu:Großbritannien: Attacken gegen Abgeordnete
von Hilke Petersen, London
|
Britische Abgeordnete sind im Visier, immer mehr bekommen Mord- und Gewaltandrohungen. Besonders der Krieg in Gaza lässt die Emotionen gefährlich hochschlagen.
Abgeordnete aller Parteien im Unterhaus warnen vor steigender Gewalt: Immer mehr Abgeordnete werden in Briefen oder auf Social Media massiv bedroht.05.04.2024 | 2:16 min
36 Millionen Euro für mehr Sicherheit von Abgeordneten - so die Zusage der britischen Regierung. Nicht wenige Parlamentsmitglieder sind inzwischen mit Panik-Notruf-Knöpfen ausgestattet. Doch nicht alle reden gern darüber. Seit den erbitterten Kämpfen um den britischen EU-Austritt wächst der Druck im gespaltenen Land stetig, was sich auch an immer mehr Drohungen gegen Volksvertreter zeigt. Der Krieg in Gaza scheint die aggressive Stimmung jetzt zusätzlich zu befeuern.
Politische Gewalt führt zu Rückzug aus der Politik
John Woodcock ist Großbritanniens Regierungsberater gegen politische Gewalt und Belästigung und weiß um das ansteigende Level gewalttätiger Drohungen.
In Mike Freers Wahlkreisbüro im Norden Londons arbeitete früher mal Margaret Thatcher. Der konservative Abgeordnete will dort bald ausziehen, nicht mehr antreten zu den kommenden Wahlen. Denn im Dezember verwüstete ein Brandanschlag das Büro. Freer hatte sich im Laufe seiner politischen Karriere immer eingesetzt für jüdische Interessen, vertritt den von vielen Juden bewohnten Bezirk Golders Green.
Mit Lügen, Feindbildern und radikalen Ideen haben die Populisten die Briten vom Brexit überzeugt. Vier Jahre später ist die Bilanz in Großbritannien düster und das Volk gespalten. 30.01.2024 | 12:33 min
Bedrohung in den letzten Jahren gewachsen
Nach dem Feuer mailte ihm jemand: "Schon mal drüber nachgedacht, dass du die Art Person bist, die es verdient, angezündet zu werden?" Obwohl Mike Freer häufig bedroht wurde, ist er überzeugt, dass es das so vor ein paar Jahren nicht gegeben hätte. Früher seien es extreme Einzelfälle gewesen, heute sei das anders.
Nahost-Konflikt polarisiert Großbritannien
Der Konflikt im Nahen Osten mischt das politische Milieu in Großbritannien auf. Zuletzt endete der Versuch im Unterhaus im Chaos, eine Abstimmung zur Forderung nach einem Waffenstillstand abzuhalten. Die Stimmung wird auch angefacht durch Pro-Palästina-Demonstranten vor dem Parlament, die ihre Parolen sogar auf den Turm des Big Ben projizierten.
Und schließlich ließ sich Premierminister Sunak ein Pult vor seinen Amtssitz stellen, um ein leidenschaftliches Plädoyer gegen wachsenden Hass in der Gesellschaft über die BBC zu senden. Darin warnt er, die Demokratie selbst würde hier zur Zielscheibe werden.
Statistiken belegen: Die Zahl der Messerstechereien in Großbritannien hat deutlich zugenommen. Die Hauptstadt London gehört mit zu den Brennpunkten.23.01.2024 | 2:17 min
England: Verrohung der politischen Kultur
Das alles erinnert an die Zeiten, in denen sich die Briten in Brexit-Debatten regelrecht zerlegten. Austreten aus der EU oder drinbleiben: Politiker, die sich deutlich auf die eine oder andere Seite stellten, wurden befeindet und angegriffen. Die Labour-Abgeordnete Jo Cox wird das erste Opfer, ermordet von einem rechtsextremistischen Täter im Juni 2016 vor ihrem Wahlkreis-Büro in Yorkshire - eine Woche vor dem Brexit-Referendum.
Im Oktober 2021 wird der konservative Brexit-Befürworter David Amess erstochen, ebenfalls vor seinem Büro. Zwei Einzelfälle, aber doch Zeichen für die Verrohung der politischen Kultur und der britischen Gesellschaft.
Den Mörder von David Amess zeigen auch Aufzeichnungen der Überwachungskamera vor dem Büro von Mike Freers: Er hatte offenbar von der anderen Straßenseite dessen Büro ausgekundschaftet - während sich Freers im Regierungsviertel in Westminster aufhielt. Angst und Bedrohung - die gehören inzwischen zum Berufsalltag vieler Abgeordneter in Großbritannien. Wut und Hetze scheinen die politische Agenda zu dominieren.
Hilke Petersen ist Leiterin des ZDF-Studios London.
Vor vier Jahren, am 31. Januar 2020, ist Großbritannien aus der EU ausgetreten. Populismus hat die Briten von dieser Idee überzeugt - mit diesen drei Strategien.