Interview mit Neitzel: Reicht, was Pistorius macht? "Nein"

    Interview

    Sönke Neitzel zur "Zeitenwende":Reicht das, was Pistorius macht? – "Nein"

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    Verteidigungsminister Pistorius muss die "Zeitenwende" umsetzen. Dabei könne man ihm nicht Untätigkeit vorwerfen, sagt Historiker Sönke Neitzel. Und schiebt ein "Aber" hinterher.

    Boris Pistorius
    Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) muss die "Zeitenwende" umsetzen.
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Im Februar 2022 hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die "Zeitenwende" ausgerufen, nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte. Wo stehen wir heute, da die "Zeitenwende" sich bewähren muss angesichts von zunehmenden Kriegen und Krisen? Ist die Bundeswehr verteidigungsbereit oder - wie einige sagen - kriegsbereit?
    Sönke Neitzel: Ich denke, die entscheidende Frage ist: Ist Boris Pistorius ein mutiger Mann? Wenn er ein mutiger Mann ist, dann geht er die Herausforderungen groß an. Es gibt die Bereiche Strukturen, Personal, den Bereich Rüstung. Es gibt den Bereich Mindset. All diese Bereiche lagen im Februar 2022 sehr im Argen.
    Und die sind meines Erachtens nicht zu lösen, indem man an kleinen Rädchen dreht. Ja, es wird gedreht, aber an kleinen Rädchen. Es verbessert sich auch was. Man kann Pistorius nicht Untätigkeit vorwerfen. Das würde völlig fehlgehen.

    Aber die Frage ist: Reicht der Hebel aus, den er ansetzt? Da würde ich sagen: Nein.

    Sönke Neitzel

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    ZDFheute: Alles Gerät und alles Geld für die Bundeswehr bringen ja wenig ohne einen Mentalitätswandel, ein Umdenken in Politik und Gesellschaft. Hat es das gegeben?
    Neitzel: Es hat sich viel verändert. Wenn wir noch an die Lieferung von 5.000 Helmen kurz nach dem russischen Überfall denken. Da sprachen wir noch nicht mal von Gefechtshelmen, sondern von Schutzhelmen, als ob es Baustellenhelme gewesen wären. Also da ist wirklich etwas im öffentlichen Diskurs passiert.
    Aber wenn Sie fragen, ob Bundeswehr und Gesellschaft wirklich fähig sind, das Bündnisgebiet zu verteidigen - und das heißt Krieg, das heißt nicht Schaumgummiball zu spielen - dann haben wir noch viel Luft nach oben. Da können Sie viele Beispiele nehmen.

    Boris Pistorius vermeidet den Begriff "kämpfen" wie der Teufel das Weihwasser. Und er vermeidet den Begriff "Krieg".

    Sönke Neitzel

    Das zeigt mir, dass er glaubt, dass man im politischen Raum bestimmte Begriffe, die eigentlich deutlich machen, worum es geht, besser nicht verwendet. Und die entscheidende Frage ist ja, sind wir wirklich verteidigungs- und kampffähig? Und gehen wir in diese Richtung? Und da kann man schon Fragezeichen machen. Sonst dürften wir nicht diese Schwierigkeiten mit diesen Begriffen haben.
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    ZDFheute: Man hat der Politik nach dem Überfall auf die Ukraine ja vorgeworfen, militärische Macht in Verhandlungen mit Wladimir Putin nicht mitgedacht zu haben. Hat sich da was geändert? Gibt es auf Seiten der Politik dieses Umdenken?
    Neitzel: Ich glaube nicht, dass sich prinzipiell daran was verändert hat. Ich glaube nach wie vor, dass dieser Bundeskanzler, diese Bundesregierung das macht, was sie immer gemacht haben seit 30 Jahren: Wir versuchen, uns möglichst rauszuhalten. Wir versuchen, möglichst in der Mitte des Nato-Konvois zu fahren.
    Wir weigern uns nicht, aber wir sind nicht die, die jetzt vor die Welle gehen. Wir sind nicht die, die wirklich Führung übernehmen, sondern wir versuchen, dieses militärisch schwierige Thema eher zu vermeiden. Die Logik ist eine andere: Was müssen wir machen, um im Ansehen der anderen nicht herunterzufallen? Was ist das Minimum?
    Es ist eine ganz klare Vermeidungsstrategie. Und es ist nicht das Denken der Streitkräfte vom Krieg her. Also ich glaube, dass die Bundesregierung nach wie vor versucht, so weit das möglich ist, das militärische Argument aus der Politik herauszunehmen.

    Sönke Neitzel, Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte an der Universität Potsdam; Dresden; 13.11.2022
    Quelle: dpa

    ... ist Militärhistoriker und Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Uni Potsdam. Davor lehrte er unter anderem an der University of Glasgow und der London School of Economics. Sein Forschungsschwerpunkt liegt unter anderem bei der Militär- und Gewaltgeschichte der Moderne.

    ZDFheute: Warum fällt uns Deutschen "Zeitenwende" so schwer? Ist es unsere Geschichte, Bequemlichkeit, Pazifismus ...?
    Neitzel: "Zeitenwende" ist unbequem und teuer. "Zeitenwende" heißt Denkmodelle, Glaubenssätze, die man hatte, infrage zu stellen, und das ist unbequem. Und vor allen Dingen ist es eine Gedankenleistung. Denn unser Leben ist ja eigentlich erstmal nicht bedroht.
    Wenn ich in Berlin auf die Straße gehe, dann bin ich erstmal von Russland nicht bedroht. Ich bin in der Regel - je nachdem, wo ich mich in Berlin aufhalte - auch von der Hamas nicht bedroht oder von China. Es erfordert eben von den Bürgern und von der Politik, vorauszudenken, vorauszuschauen und vorausschauend zu handeln. Und darin ist die Politik extrem schlecht.
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    ZDFheute: Wie viel Zeit bleibt uns, die "Zeitenwende" voranzutreiben?
    Neitzel: Wir müssen jetzt handeln. Wir hätten bereits gestern die großen Reformschritte einleiten sollen, in die Hartruderlage gehen sollen. Ich möchte dieses Bild aus der Schifffahrt nehmen, eines Supertankers, der nur langsam drehen kann.

    Mir kommt es so vor, als wenn Boris Pistorius und Olaf Scholz auf der Brücke der Titanic stehen und den Eisberg sehen.

    Sönke Neitzel

    Und dann sagen sie: Naja, wir könnten vielleicht fünf Grad Steuerbord gehen, wollen wir mal die Ruderanlage nicht überfordern von diesem Schiff, schließlich kann ein Ruder auch abbrechen, wenn man in die Lage geht. Und dann sage ich: Nein, dieses Risiko müsst Ihr eingehen, sonst krachen wir voll in den Eisberg rein. Nein, es geht ums Handeln. Jetzt.
    Das Interview führte Ines Trams, Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio in Berlin.

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