Big Tech und Demokratie: Ist das freie Internet bald tot?

    Interview

    Big Tech und Demokratie:Ist das freie Internet bald tot?

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    Das freie Internet lebt nicht mehr lang, sagt Medienwissenschaftler Martin Andree. Warum er in Big Tech eine Gefahr für die Demokratie sieht, erklärt er im ZDFheute-Interview.

    Symbolbild Internet, Computertechnik
    Quelle: Colourbox.de

    ZDFheute: Herr Andree, Sie kritisieren schon lange, dass die Tech-Giganten wie Google oder Facebook im Internet eine Monopolstellung haben und eine große Gefahr darstellen. Wie kommen Sie zu der Ansicht?
    Martin Andree: Wenn man sich anschaut, wie der Traffic im Netz verteilt ist, sieht man sofort: Eine Handvoll Konzerne besitzt das Netz, fast alle anderen gehen leer aus. Besonders problematisch ist, dass die Top-Angebote jeweils einen ganzen Markt monopolisieren: Google den Markt für Suchmaschinen, Youtube den Markt für Gratis-Video-on-Demand, also quasi Online-Fernsehen, Facebook und Instagram für Social Media und so fort.

    Fairer Wettbewerb ist in diesen riesigen Märkten unserer digitalen Zukunft vollständig abgeschafft.

    Martin Andree

    Martin Andree
    Quelle: Martin Andree

    ... unterrichtet digitale Medien an der Universität Köln. Als habilitierter Medienwissenschaftler forscht er seit mehr als 15 Jahren zu den Vormachtstellungen von Big Tech. Er ist zudem Gründer von AMP Digital Ventures mit Fokus auf KI, digitale Innovation und Performance Marketing. Er ist Verfasser von sieben Büchern, sein neuestes heißt "Big Tech muss weg"; bei Campus ist zuvor sein "Atlas der digitalen Welt" (2020) erschienen.

    ZDFheute: An welcher Stelle wurde der entscheidende Fehler gemacht?
    Andree: Politik und Behörden haben die Natur dieser digitalen Märkte am Anfang nicht verstanden und wurden von den Konzernen aufs Glatteis geführt.
    Das Problem ist: Plattformen neigen zu massiven Netzwerk-Effekten, die fast immer dazu führen, dass sich ein Anbieter durchsetzt und alle anderen absterben.
    Deswegen wäre es leicht gewesen, früh Rahmenbedingungen zu schaffen, die auch anderen Anbietern Chancen lassen. Dies ist bis heute nicht erfolgt, im Gegenteil.
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    Die aktuelle Fehlregulierung der Märkte privilegiert die Plattformen sogar noch massiv, beschleunigt so die Abschaffung von Vielfalt und würgt alternative Anbieter ab.

    Martin Andree

    ZDFheute: Sie äußern regelmäßig Ihre Furcht, dass durch diese Entwicklung die Demokratie gefährdet wird. Aber die Menschen selbst können doch so viel Videos und Texte verschicken wie noch nie. Diese aktive Teilhabe ist doch ein demokratisches Prinzip?
    Andree: Auf den ersten Blick wirkt das so. Und tatsächlich preist niemand mehr diese Teilhabe als die Digitalkonzerne selbst. Aus einem durchschaubaren Grund: Ihnen gehören die Plattformen - und mit jedem Post und jedem Share füttern wir die Vormacht von Big Tech nur noch mehr.
    Grafik: Abschaffung des freien Internets
    Der Haupt-Traffic findet innerhalb der "Silos" von Google, Youtube, Facebook und anderen statt.
    Quelle: Martin Andree

    ZDFheute: Auch die großen Medien stellen ihre Inhalte den Plattformen zur Verfügung …
    Andree: Natürlich - was sollen sie auch anderes tun? Sie sitzen in der Todesfalle: Ihre Zukunft liegt ausschließlich in den digitalen Kanälen. Aber die gehören Big Tech. Um überhaupt winzige Anteile an Aufmerksamkeit für ihre Inhalte zu ergattern, haben sie keine Wahl - sie müssen die Plattformen füttern, die ihre schlimmsten Feinde sind.
    ZDFheute: Die Userinnen und User lieben aber diese Plattformen ...
    Andree: Natürlich, es sind die Medien der heutigen Zeit. Sie haben ebenso wenig eine Wahl, wie wir uns zum Beispiel auch die Buchstaben nicht frei wählen können. Stellen Sie sich einmal vor, Gutenberg hätte durch einen teuflischen Trick seine beweglichen Lettern geschützt.

    Bis heute wären wir alle die Sklaven dieser schrecklichen "Gutenberg Inc.".

    Martin Andree

    Nein, Mediengattungen dürfen niemals Privatunternehmen gehören. Exakt diesen Zusammenhang verstehen die Regulierer nicht. Monopole müssen auf dem Feld der Medien ein Tabu sein.
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    ZDFheute: Wie kommen Sie zu der Berechnung, dass 2029 alles zu spät ist?
    Andree: Die eigentliche Frage ist ja: Wann gehört den Plattformen die bundesdeutsche politische Öffentlichkeit als Grundlage unserer Demokratie? Hierfür schauen wir uns an, wo die aggregierte Aufmerksamkeit unseres Mediensystems liegt.
    Dafür gibt es einen hervorragenden Näherungswert, und zwar die Werbeinvestitionen. Denn Unternehmen investieren dort in Werbung, wo die Aufmerksamkeit des Publikums ist.

    Schon 2020 haben digitale Medien mehr an Werbeinvestitionen eingenommen als alle analogen Medien zusammengenommen.

    Martin Andree

    Auf Grundlage der existierenden Vorhersagen können wir berechnen, dass 2029 weniger als ein Viertel der Aufmerksamkeit in analogen Medien ist - drei Viertel wird auf digitalen Kanälen sein. Dort herrschen die Plattformen mit ihrer uneinholbaren Übermacht.
    Spätestens dann wird der Anteil der redaktionellen Medien viel zu schwach sein, um sich publizistisch noch gegen diese feindliche Übernahme zu wehren. Dann gehört Big Tech unser Mediensystem.
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    ZDFheute: Warum schreien so wenige auf? Immerhin sind auch die Medien betroffen, sowohl was deren Geschäft angeht als auch deren Bedeutung für den Pluralismus.
    Andree: Weil die Zukunft digital ist, kooperieren alle Medien auf verschiedene Weise mit den Plattformen - denn sonst haben sie gar keinen Zugang mehr zur digitalen Publizität.

    Sie machen also alle einen Deal mit ihrem eigenen Henker - oder sie existieren nicht.

    Martin Andree

    Die Untätigkeit von Politik und Behörden hat die Redaktionen hier in eine schlimme Lage gebracht, denn hier entstehen medienökonomische Abhängigkeiten, welche auch die Freiheit der übrigen redaktionellen Medien untergraben.
    ZDFheute: Wie kann man gegensteuern? Es wird ja oft von Zerschlagung der Konzerne in Einzelteile gesprochen.

    • Öffnung für Outlinks: Plattformen müssten gezwungen werden, Outlinks ("Links nach draußen") auf allen Ebenen zu erlauben (Überschrift, Bild, Text, etc.) - und die gängige Praxis, Posts mit Outlinks zu diskriminieren, müsste als schweres kartellrechtliches Delikt bestraft werden (Ausnutzung marktbeherrschender Stellungen). Jeder solche Klick eines Nutzers wird in Zukunft als Entscheidung respektiert, die Plattform zu verlassen. Sofort würden die Mauern um die Plattformen eingerissen, der Traffic könnte wieder frei fließen.
    • Offene Standards: Man müsste große Plattformen dazu zwingen, auf allen Ebenen offene Standards zu nutzen und vollständige Interoperabilität herzustellen. Sobald die Nutzer Inhalte, aber auch Follower, über Plattformgrenzen hinweg teilen können oder mitnehmen können, bekommen andere Anbieter eine echte Chance.
    • Trennung Verbreitungsweg und Inhalt: Diese bewährte Praxis führt zu mehr Vielfalt und Wettbewerb - zumal man nach dieser Trennung die Plattformen für Drittanbieter öffnen könnte.
    • 30 Prozent Marktanteilsobergrenze: Bei demokratierelevanten Mediengattungen (Search, Social Media, Gratis Video-on-Demand) muss Vielfalt ermöglicht werden - erneut eine bewährte Praxis aus dem Medienrecht für Vielfalt und Pluralismus, die auch für andere Mediengattungen wie den Rundfunk erfolgreich eingesetzt wird.
    • Garantierte Staatsferne: Unternehmen, die Interessenskonflikte mit Regierungen haben, dürften auf dem Feld demokratierelevanter Medien nicht mehr in Deutschland wirtschaftlich tätig sein. Betroffene Konzerne müssten solche Unternehmensteile entflechten.
    • Zahlung voller Steuerlast:  Big Tech müsste auf demselben Niveau Steuern zahlen wie andere Unternehmen in Deutschland.
    • Verbot der Monetarisierung strafbarer Inhalte: Sobald Digitalkonzerne die wirtschaftliche Verantwortung für Content übernehmen (zum Beispiel durch Werbung oder Gebühren), müssen sie auch die inhaltliche Verantwortung übernehmen. Sie können alternativ "unfiltered feeds" einführen - aber dort beispielsweise keine Werbung mehr schalten.
    • Beteiligung Nutzer an AGB: Wer Plattformen unterhält und die aktuellen Privilegien nutzt, muss die Nutzer beteiligen an der Bestimmung der AGB - denn es sind dieselben Nutzer, die die Plattformen überhaupt erst erschaffen.

    Andree: Es ist tragisch, weil wir das Problem in wenigen Monaten lösen könnten, wenn wir es wollten. Es gibt Probleme wie den Klimawandel oder die Ukraine-Krise, die sind schwer zu lösen. Die Lösung unseres Problems kostet keinen einzigen Euro und niemand muss dafür sterben, geschweige denn eine Verletzung in Kauf nehmen.
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    ZDFheute: Sehen Sie überhaupt Anstrengungen, dass die großen Konzerne eingeschränkt werden?
    Andree: Nein. Wir machen den Fehler, das komplexe Geflecht regulatorischer Fehler aus Jahrzehnten jetzt im Nachhinein optimieren zu wollen, anstatt mutig den "Reset"-Knopf zu drücken. Wenn wir nämlich vom Ende her denken würden, einem freien Internet, dann wäre alles ganz leicht.
    Das Interview führte Hubert Krech von der ZDF-Hauptredaktion Digitale Medien.

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