Immer mehr Flüchtlinge: Warum Italien den Notstand ausruft

    Immer mehr Bootsflüchtlinge:Warum Italien den Notstand ausruft

    ZDF-Reporterin Annette Hilsenbeck
    von Annette Hilsenbeck
    |

    Seit Jahresbeginn nimmt die Zahl der Bootsflüchtlinge in Italien stark zu. Die Regierung sendet nun ein Alarmsignal: Sie ruft den Notstand aus.

    Ein libysches Fischerboot wird in den Hafen der sizilianischen Stadt Catania gezogen - mit etwa 700 Migranten an Bord ist es komplett überfüllt. Kurz vorher war es in Seenot geraten, weil der Treibstoff ausging. Kein Einzelfall in diesem Jahr: Bereits am Osterwochenende war die italienische Küstenwache immer wieder im Einsatz gewesen, hatte Menschen aus dem Meer gerettet, von überfüllten Barken oder Fischerbooten.

    Notstand ausgerufen

    Nach Angaben der italienischen Regierung sind seit Anfang des Jahres fast 31.000 Menschen so angekommen, fast viermal so viel wie im Vorjahreszeitraum. Am Dienstagabend hat Italiens Regierung als Reaktion den landesweiten Notstand ausgerufen, der sechs Monate lang gelten soll. Der zuständige Minister für Zivilschutz und Meerespolitik, Nello Musumeci, begründet das Vorgehen:

    Wir müssen den Regionen helfen, denn das System steht vor dem Kollaps.

    Nello Musumeci, Minister für Zivilschutz und Meerespolitik

    Mit der Ausrufung des Notstands werden zunächst vor allem Finanzmittel aus dem Nationalen Notstandsfond frei. Anfangs sollen das fünf Millionen Euro sein.

    Hilfe für die südlichen Regionen

    Damit soll etwa Lampedusa geholfen werden - das Aufnahmelager auf der Insel im Süden, auf der viele der Boote übers Mittelmeer ankommen, ist eigentlich für knapp 400 Personen konzipiert. Zurzeit ist es mit über 2.000 Migranten komplett überfüllt, das Personal überlastet.
    Es ist nicht das erste Mal in diesem Jahr, dass man hier diese Situation bewältigen muss. Auch in anderen Regionen im Süden sind in diesem Jahr weitaus mehr Boote mit Migranten angekommen als im Vorjahreszeitraum.

    Notstand erleichtert rigide Migrationspolitik

    Die rechte Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni steht in der Migrationsfrage unter erheblichem Druck. Sie hatte es zu einem ihrer zentralen Themen erklärt, die Zahl illegaler Migranten zu kontrollieren und zu verringern. Nichtregierungsorganisationen, die die Regierung als Teil des Problems bezeichnet, können nur noch unter erschwerten Bedingungen agieren - sonst drohen ihnen Geldstrafen und die Beschlagnahmung ihres Schiffes. Die Gefängnisstrafen für Schlepper wurden drastisch erhöht. Wirkung zeigt das nicht: Italien erlebt trotzdem eine massive Zunahme der Ankünfte. Und der Sommer, in der die oft ruhige See Überfahrten begünstigt, steht noch bevor.
    Die Ausrufung des Notstandes hilft Ministerpräsidentin Meloni nun: Es ermöglicht der Regierung, schnellere Verfahren und Maßnahmen durchzuführen und dabei bestehende Regelungen außer Kraft zu setzen. Politikwissenschaftler Lorenzo Castellani von der Universität LUISS in Rom erklärt:

    Das gibt der Regierung mehr Möglichkeiten - etwa, wenn es darum geht, weitere Abschiebezentren zu eröffnen.

    Lorenzo Castellani, Politikwissenschaftler

    Solche Abschiebezentren, in denen nicht asylberechtigte Migranten bis zu ihrer Abschiebung festgehalten werden, sind ein zentrales Anliegen der rechten Meloni-Regierung. Sie hatte die Kontrolle und Verringerung der illegalen Migration zu einem ihrer Hauptthemen erklärt. Vor kurzem hatte man per Dekret beschlossen, Zahl und Kapazität dieser Abschiebezentren zu erhöhen. Jetzt, da der Notstand ausgerufen wurde, ist das leichter umzusetzen.
    ZDF-Korrespondent Andreas Postel
    Das Flüchtlingslager sei "stark überfüllt", die Zustände seien "schwer gewesen" und Italien versuche jetzt, Platz zu schaffen, so ZDF-Korrespondent Andreas Postel über die Flüchtlingssituation in Lampedusa.05.04.2023 | 3:26 min

    Letztes Mittel - und Hilferuf an Europa

    Den Notstand auszurufen, ist aber auch einer der wenigen verbleibenden Möglichkeiten, um die Situation unter Kontrolle zu haben. Politikwissenschaftler Castellani sieht das so:

    Es ist eine Maßnahme, die die Aktionen der Regierung stärkt, aber das löst das wahre Problem nicht, ... weil Italien keine Vereinbarung mit den anderen EU-Staaten für eine gemeinsame europäische Politik erreichen kann.

    Lorenzo Castellani, Politikwissenschaftler

    Heißt: Am Grundproblem ändert sich nichts. Italien ist, ebenso wie etwa Spanien oder Griechenland, verpflichtet, die illegalen Migranten aufzunehmen, diese müssen in Italien das Asylverfahren durchlaufen. Bis heute gibt es keine feste verbindliche Regelung, nach der EU-Staaten Migranten - etwa entsprechend der Einwohnerzahl - aufnehmen müssen. Minister Musumeci verbindet mit dem Notstand Hoffnungen:

    Hoffentlich versteht Europa, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.

    Nello Musumeci, Minister für Zivilschutz und Meerespolitik

    Italien fühlt sich in der Migrationspolitik von der EU-Gemeinschaft im Stich gelassen - die Ausrufung des Notstandes ist da auch als Hilferuf zu verstehen
    Annette Hilsenbeck ist Korrespondentin im ZDF-Studio in Rom

    Italien und die Flüchtlinge