Kanzler Scholz glaubt, die EU bekommt die Flüchtlingspolitik in den Griff. Vor dem Gipfel sagt er das im Bundestag. Dabei sind viele Probleme ungeklärt. Die Opposition murrt.
Die Regierungserklärung von Kanzler Scholz stand unter dem Eindruck des Erdbebens in Türkei und Syrien. Der Anlass für die Rede war aber der morgige EU-Gipfel.
Sind Zwischenrufe im Bundestag ein Gradmesser, ob eine Rede zündet oder Widerspruch provoziert, dann ist es diesmal das Thema Abschiebung. Die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zum EU-Gipfel plätschert am Mittwoch im Bundestag zuerst viele Minuten dahin.
Volle Solidarität mit der Türkei und Syrien nach dem furchtbaren Erdbeben. Keine Änderung des Kurses bei der militärischen Unterstützung der Ukraine. Für diese Passagen gab es für Scholz aus den Reihen der Ampel-Koalition freundlichen Applaus und oft demonstratives Kopfnicken auf der Regierungsbank. Erst das Thema Migration und Abschiebungen provozierte die Opposition zu Zwischenrufen und lautstarkem Murren.
Auch etwa in Groß-Rohrheim und Bensheim in Hessen fehlt es an Unterkünften für Geflüchtete. Es gibt nicht genug Kapazitäten, nicht genug Wohnraum - umfunktionierte Hallen müssen helfen.
Scholz: "Intensive Gespräche" zu Migration
Dabei scheint auch bei diesem Thema die Welt von Olaf Scholz ziemlich in Ordnung. Städte und Kommunen fühlen sich wegen der steigenden Flüchtlingszahlen überlastet? Bald werde Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) einen neuen Gipfel einberufen, der Bund werde "auch in diesem Jahr mit Milliarden" unter die Arme greifen, "um die Ankommenden gut zu versorgen". Die EU ist gespalten, wie die Außengrenzen gesichert werden können? Er, Scholz, habe "intensive Gespräche" mit den Staats- und Regierungschefs geführt:
Konkreter wird Scholz nicht. Andere Länder machen vor Beginn des EU-Gipfel am Donnerstag öffentlich mehr Druck. Österreich droht, die Abschlusserklärung zu blockieren, wenn es keine echten Fortschritte im Kampf gegen illegale Migration geben wird.
Immer mehr Menschen flüchten nach Deutschland, nicht nur Asylsuchende, auch Kriegsflüchtlinge, vor allem aus der Ukraine. Die Kommunen sind überlastet und brauchen dringend Hilfe.
In einem Brief zusammen mit Dänemark, Griechenland, Lettland, Slowakei, Malta, Estland und Schweden fordert Österreichs Kanzler Karl Nehammer von der EU finanzierte Maßnahmen zum Schutz der Außengrenze, wie Zäune etwa. Außerdem schnellere Abschiebungen und neue Rückführungsabkommen mit Drittstaaten, indem zum Beispiel Visa- oder Handelserleichterung eingeschränkt, Geld für die Entwicklungshilfe gekürzt werden.
Scholz spricht davon im Bundestag nicht. Er will offensichtlich keine Zäune an den EU-Außengrenze, sondern die Stärkung der Grenzschutztruppe Frontex. Statt Sanktionsmechanismen für Drittstaaten lieber mehr Abkommen mit Staaten, "Migrationspartnerschaften" nennt er das. Außerdem mehr Solidarität in der EU, damit nicht nur die Länder an den Außengrenzen die Menschen aufnehmen.
Die Realität ist: Griechenland, Italien und Ungarn schicken sie ohne Prüfung oft weiter Richtung Mitte Europas, was den EU-Regeln widerspricht.
Kürzere Asylverfahren: "Und dann?"
Laut Scholz brauche es aber mehr Zuwanderung. Einfach weil in den Unternehmen, Krankenhäusern, in der Pflege und Handwerksbetrieben die Fachkräfte fehlen. Deswegen solle es ein neues Zuwanderungsrecht geben. Aber:
Da lachen einige Abgeordneten, vor allem in den Reihen der AfD. Als Scholz auf kürzere Asylverfahren an den Gerichten verweist, ruft jemand: "Und dann?" Denn wenn ein Land die Person nicht aufnimmt, kann nicht abgeschoben werden. Das Migrationsabkommen mit Indien, sagt Scholz, "funktioniert schon sehr erfolgreich". Da murren einige.
Indien ist nicht unter den Top Ten der Herkunftsländer, aus denen Menschen einen Asylantrag in Deutschland stellen.
Wegen hoher Flüchtlingszahlen und überforderter Kommunen kündigt Bundesinnenministerin Faeser einen erneuten Flüchtlingsgipfel an. Es bestehe "Handlungsbedarf", sagt sie im ZDF.
CDU und AfD kritisieren Faeser
Die Opposition belässt es nicht bei Zwischenrufen. Unions-Fraktionschef Friedrich Merz unterschiedet zwischen den Flüchtenden aus der Ukraine und denen aus Syrien, Irak oder Afghanistan. Man wolle Menschen in Not helfen, in vielen Gemeinden und Kreisen seien aber "die Aufnahmekapazitäten erschöpft". Ein Gipfel werde daran wenig ändern, wenn diesen statt Scholz selbst Innenministerin Faeser organisiere, die SPD-Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl in Hessen ist:
"Keine Sonderaufnahme-Programme in der EU, dafür sorgen, dass wir eine andere Verteilung bekommen, dass die irreguläre Migration gestoppt wird", dafür plädiert die stellv. Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz, CSU.
Die AfD sieht das ähnlich. Faeser sei eine "Teilzeit-Innenministerin", so Fraktionschef Alice Weidel, die ihr Amt als "Wahlkampfplattform und Sicherheitsgurt für ihre Karrierepläne" nutze. Amira Mohamed Ali, Fraktionschefin der Linken, kritisiert, dass die Koalition sowieso alle Krisen seit dem Ukraine-Krieg nicht in den Griff bekomme. Und in Richtung Scholz:
Die EU-Länder, ahnt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt mit Blick auf den Brief der acht Länder, sind schon längst dabei eine Lösung zu finden. "Ohne Deutschland", so Dobrindt.
Im 500-Seelen-Dorf Upahl fand eine Bürgerversammlung statt, nachdem dort zuletzt unter anderem Neonazis gegen die Unterbringung von 400 Geflüchteten protestiert hatten.
Scholz trifft Selenskyj in Paris
Dass Kanzler Scholz noch am Abend den ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj in Paris treffen will, zusammen mit Frankreichs Staatspräsident Emanuel Macron, verrät er im Bundestag übrigens nicht. Jedenfalls nicht den Abgeordneten. In seiner Regierungserklärung hatte Scholz davon gesprochen, dass die Koalition weiter "Entscheidungen zunächst vertraulich vorbereitet und dann erst kommunizieren" wollen.
Wenn es passt, ist es eben manchmal auch umgekehrt.
Sehen Sie hier die Regierungsbefragung in voller Länge:
Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz bzum Europäischen Rat und anschließende Aussprache