Türkei: Wahlkampfauftakt im Erdbebengebiet

    Stimmenkampf im Erdbebengebiet :Türkei vor der Wahl - ein gespaltenes Land

    von Anna Feist
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    Präsident Erdogan und sein Herausforderer Kilicdaroglu kämpfen um jede Stimme - auch im Erdbebengebiet. Doch nicht für alle sind die Versprechungen ein Hoffnungsschimmer.

    Zerstörung nach Erdbeben in Samandag, Türkei
    Nach dem verheerenden Erdbeben beklagt die Türkei mehr als 50.000 Todesopfer.
    Quelle: ap

    Stofffetzen, zerschlissene Sofateile und Eisenstangen, aufgetürmt in einer Steinwüste. Auch wenn viele türkische Städte, die von den verheerenden Erdbeben im Februar getroffen wurden, mittlerweile "aufgeräumt" sind, bleibt das Ausmaß auch zwei Monate nach der Katastrophe kaum fassbar.

    Trümmer und Zerstörung in zahlreichen Orten

    Flächen so groß wie mehrere Fußballfelder mitten im Stadtkern sind plötzlich Brachland. Frauen klauben Eisen und Wertstoffe aus den Trümmern, ein alter Mann mauert einsam eine neue Wand. Sein einstöckiges Haus ist das einzige in diesem Viertel, das noch steht.
    Der Mann heißt Yasar Cinar, bezeichnet sich selbst als einer der Mitbegründer der AKP, der Partei Recep Tayyip Erdogans, in der Kleinstadt Nurdag westlich von Gaziantep. Sein Restaurant war so etwas wie die örtliche Parteizentrale. Doch Yasar Cinar reicht es: "Genug ist genug", murmelt er und trinkt einen Schluck Chai. Nach 20 Jahren, fährt er fort, sei es an der Zeit für einen Wechsel in der Politik: Er wird Erdogan nicht mehr seine Stimme geben. Denn: Noch vor wenigen Wochen war sein Haus umgeben von mehrstöckigen Apartmentblocks:

    Erst waren es drei Stockwerke, dann fünf, aus fünf wurden acht. Ist das nicht verwerflich? Und die Stadtverwaltung hat einfach zugeschaut.

    Yasar Cinar

    Yasar starrt auf die riesige Brachfläche vor ihm, mit Tränen in den Augen fährt er fort:

    Meine Kinder sind tot.

    Yasar Cinar

    Yasar Cinar will deshalb Kemal Kilicdaroglu wählen.

    Wer ist Kemal Kilicdaroglu?

    Kilicdaroglu ist der Vorsitzende der CHP und hat es geschafft, sich als Präsidentschaftskandidat eines Bündnisses aus sechs Parteien aufstellen zu lassen. Das erklärte Ziel: Die Türkei von der Korruption befreien, die Demokratie zurück ins Land holen.
    Die Katastrophe hat dem 74-Jährigen Aufwind gegeben, selbst in Städten im Erdbebengebiet, in denen die AKP an der Macht ist, wird Erdogans Kontrahent von jubelnden Menschenmengen empfangen. Wir treffen Kilicdaroglu auf seiner Wahlkampftour und fragen nach, warum er Erdogan bezwingen muss. Die Antwort:

    Um der Türkei Demokratie zu bringen, um dem Land Ruhe zu bringen, um dem Land Frieden zu bringen, um die Spaltung zu beenden.

    Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP

    Er wolle "echte Gerechtigkeit" ins Land bringen. Und wie gut stehen seine Chancen? Kilicdaroglu ist sich sicher: "Wir werden siegen, wir werden siegen und wir werden die Demokratie in dieses Land bringen."

    Erdogan wirbt mit Häusern

    Zurück in Nurdag. Nicht nur der Erdogan-Herausforderer tourt durchs Land - auch der Präsident ist auf Wahlkampftour, dort wo das Beben besonders viel zerstört hat. Und anders als sein Herausforder macht Erdogan nicht nur Versprechungen, sondern lässt Tat folgen: Etwa zum Zuckerfest ein Haus.
    Der Präsident hat zur Schlüsselübergabe ins Neubaugebiet geladen. Hier sollen 14 Familien ein neues Eigenheim finden. Mit Bussen kommen Tausende Erdogan-Anhänger zu der kleinen Siedlung, Männer und Frauen streng voneinander getrennt. Sie harren Stunden aus, um ihren Präsidenten zu sehen.  Zwei junge Frauen schwärmen: Erdogan ist "der beste Präsident auf der Welt". Und: "Er hält immer, was er verspricht. Er gibt sein Bestes". Neue Versprechungen folgen prompt, als der 69-Jährige mit fast vierstündiger Verspätung die Bühne betritt:

    Innerhalb eines Jahres werden wir 319.000 dieser Häuser fertigstellen.

    Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei

    Für die einen sind solche Versprechungen ein Hoffnungsschimmer in der Katastrophe. Andere aber haben keine Hoffnung mehr, glauben auch nicht mehr daran, dass sich etwas ändern wird.

    Zwei Millionen Menschen nach Katastrophe obdachlos

    Nuray etwa - sie wohnt seit dem Beben wie Hunderttausende im Zelt vor ihrem schwer beschädigten Haus. Sie hat resigniert: "Wir sind nicht gestorben, aber wir haben den Tod erlebt. Wir sind zwar lebend rausgekommen, aber haben wir wirklich überlebt?"
    Ob und wie sich die Katastrophe auf die Wahl am 14. Mai auswirkt, das wird sich an der Wahlurne zeigen.

    Wahlen per Dekret vorgezogen
    :Türkei: Präsidentschaftswahlen am 14. Mai

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