Fachkräftemangel: "Stille Reserve" könnte die Lösung sein

    Fachkräfte händeringend gesucht:"Stille Reserve" könnte die Lösung sein

    von Dagmar Noll
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    Gut ausgebildet und arbeitswillig - wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Die "stille Reserve" könnte den Fachkräftemangel bekämpfen. Doch wie gewinnt man sie für den Arbeitsmarkt?

    "Stille Reserve" auf dem Arbeitsmarkt
    Wege aus dem Fachkräftemangel in Deutschland30.03.2023 | 10:31 min
    Schon jetzt spüren wir den Fachkräftemangel an allen Ecken und Enden. Und es wird noch schlimmer: Die Babyboomer, also die Generation der um die 1960 Geborenen, geht in den kommenden Jahren in Rente. Der demografische Wandel dünnt den Arbeitsmarkt stark aus: Bis zu sieben Millionen Fachkräfte werden bis 2035 fehlen.
    Fast zwei Drittel dieses Verlustes könnten gedeckt werden, wenn man die "stille Reserve" hebt. Dazu gehört die 40-jährige Mutter, die längere Zeit aus dem Job raus war und sich jetzt abgehängt fühlt. Dazu gehört auch der 60-jährige Dachdecker, der seine Arbeit liebt, sie aber körperlich nicht mehr schafft. Und dazu gehört auch der Minijobber, der gerne einen normalen Vollzeitjob hätte. Der überwiegende Teil der "stillen Reserve" verfügt über ein mittleres bis hohes Qualifikationsniveau, also mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine Hoch-/Fachhochschulreife.

    Zur "stillen Reserve" am Arbeitsmarkt gehören Menschen, die grundsätzlich bereit wären zu arbeiten, aber aktuell nicht (mehr) im Beruf stehen und auch nicht arbeitslos gemeldet sind. Dass sie keiner Beschäftigung nachgehen, liegt häufiger entweder an Betreuungspflichten oder an der Angst, keine passende Tätigkeit zu finden.

    Im weiteren Sinne gehören zur "stillen Reserve" aber auch Menschen, die ihren Beruf wegen zu starker Belastung frühzeitig aufgeben. Oder Menschen in Teilzeit, die gerne aufstocken würden. Insgesamt sind das etwa 1,4 Millionen Menschen.

    Das Statistische Bundesamt fasst die Zahl noch weiter: Sie zählen auch Personen zur "stillen Reserve", die gar nicht suchen, aber generell nicht abgeneigt wären, zu arbeiten. Diese arbeitsmarktfernste Gruppe umfasst noch einmal 1,8 Millionen Menschen.

    "Stille Reserve" ein Schatz, der gehoben werden muss

    Gerade die über 60-Jährigen in der "stillen Reserve" sind wichtig, sagt Enzo Weber, Wirtschaftswissenschaftler am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg: "Die Älteren sind eine Schlüsselgruppe, ganz einfach deswegen, weil sie die Gruppe sind, die wächst. Da ist am meisten zu holen."

    Wenn wir da eine Erwerbsbeteiligung in Jobs hätten von Menschen über 60 wie jetzt von Menschen, die fünf Jahre jünger sind, dann würden wir dadurch knapp 2,5 Millionen Arbeitskräfte gewinnen.

    Prof. Enzo Weber, Wirtschaftswissenschaftler am Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg

    Diesen Menschen müssen Möglichkeiten zur Weiterentwicklung geboten werden. Und zwar frühzeitig und mit Weitblick. Sie brauchen Tätigkeiten, in denen ihre Qualifikation genutzt werden kann, die aber weniger belastend sind.

    Arbeitgeber müssten auch auf über 50-Jährige schauen

    Auch Arbeitgeber sind in der Pflicht, vorurteilsfreier auf diese Gruppe zu schauen. Zwar finden über 55-Jährige heute viermal häufiger eine Arbeit als noch in den 1990ern. Trotzdem gehören Menschen über 50 in den Köpfen vieler Arbeitgeber immer noch schnell zum "alten Eisen". Dabei bieten gerade sie hohe Qualifikation gepaart mit einem großen Wissensschatz.
    Wer Fachkräfte sucht, könnte in dieser Gruppe fündig werden, wenn die Motivation stimmt. Finanzielle Anreize sind dabei nebensächlich, sagt Weber:

    Wie versuchen Mittelständler Menschen, die einen Rentenanspruch haben, zu halten? Da sehen wir, die packen nicht etwa nochmal richtig Geld auf den Tisch, sondern die bieten kürzere Arbeitszeiten, flexiblere Arbeitszeiten, passende Arbeitsinhalte. Und dann klappt's auch.

    Prof. Enzo Weber

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    Wir müssen in die Kinderbetreuung investieren. Jede Erziehungskraft, die wir dazu gewinnen, ermöglicht es vielen Elternteilen, stärker beruflich aktiv zu werden. Das ist ein lohnender Bereich.

    Prof. Enzoo Weber

    Deutschland hat genug Menschen in der "stillen Reserve", um den Fachkräftemangel zumindest stark einzudämmen. Aber nur, wenn die Rahmenbedingungen für Arbeit neu gedacht werden.
    Dagmar Noll ist Redakteurin bei "Volle Kanne".

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