Die vier Literaturexpert:innen diskutieren über die Bücher von Daniel Kehlmann, Louis-Ferdinand Céline, Deniz Utlu, Charlotte Gneuß.
Daniel Kehlmann
Während der Machtergreifung der Nationalsozialisten dreht G. W. Pabst gerade in Frankreich. Vor den Gräueln des neuen Deutschlands flieht er nach Hollywood. Unter der blendenden Sonne Kaliforniens wirkt der weltberühmte Regisseur aber mit einem Mal wie ein Zwerg. Nicht einmal Greta Garbo, die er mit seinem Stummfilm "Die freudlose Gasse“ unsterblich gemacht hat, kann ihm helfen. Schon bald findet sich Pabst mit seiner Familie in seiner alten Heimat Österreich wieder, die nun Ostmark heißt. Die barbarische Natur des Regimes spürt der Heimkehrer mit aller Deutlichkeit. Doch der Propagandaminister in Berlin hat große Pläne mit dem Filmgenie und akzeptiert keinen Widerspruch. Während Pabst noch glaubt, dass er dem Werben widerstehen, sich keiner Diktatur als der der Kunst fügen werde, ist er bereits den ersten Schritt in die rettungslose Verstrickung gegangen. Ein Roman über Kunst und Macht, über Schönheit und Barbarei.
Louis-Ferdinand Céline
Im Sommer 2021 ereignete sich eine literarische Sensation: Tausende Manuskriptseiten des 1961 verstorbenen, wegen seiner antisemitischen Schmähschriften höchst umstrittenen französischen Schriftstellers, tauchten wieder auf. Sie waren 1944 aus seiner Wohnung in Montmartre entfernt worden, während Céline zusammen mit der Vichy-Regierung im schwäbischen Sigmaringen Unterschlupf vor der Verfolgung als Nazi-Kollaborateur in Frankreich suchte. "Krieg“ ist der erste Roman aus dem wiedergefundenen Konvolut und spielt 1914 auf den Schlachtfeldern Flanderns: Gleich zu Beginn des I. Weltkriegs wird der junge Soldat Ferdinand schwer verwundet. Halb tot kommt er in ein Militärlazarett, wo sich eine obsessive sexuelle Beziehung mit der Krankenschwester, die ihn pflegt, entwickelt. Das Rauschen im Ohr raubt Ferdinand den Schlaf, viel schlimmer aber sind die Bilder im Kopf. Scheinbar genesen und zurück im Leben, freundet er sich mit einem Zuhälter an und gibt sich zügellosem Vergnügen hin. Ein Roman über die Hölle, die Menschen sich gegenseitig bereiten, über das Grauen des Krieges, die Schönheit der Natur und die Sehnsucht nach Liebe.
Deniz Utlu
Yunus ist dreizehn Jahre alt, da erleidet sein Vater zwei Schlaganfälle und ist fortan nahezu vollständig gelähmt. Ein Jahrzehnt lang kann er nur noch über Augenbewegungen kommunizieren. Als der Vater stirbt, erinnert sich sein mittlerweile erwachsener Sohn Yunus an die Bilder der Kindheit, seine Erlebnisse und Gespräche mit dem Vater. Sie fügen sich zum Porträt eines Mannes, der mit lauter Stimme lachte oder auf Arabisch fluchte, der häufig abwesend und leicht reizbar war und der einst aus dem südostanatolischen Mardin nahe der syrischen Grenze nach Istanbul ging, dort den Militärputsch miterlebte und schließlich mit einem Frachtschiff nach Deutschland kam. "Vaters Meer“ erzählt von einem Schicksalsschlag, der eine ganze Familie trifft, von einer Vater-Sohn-Beziehung, die abrupt endet, von Migration und Zugehörigkeit.
Charlotte Gneuß
1976, im Dresdner Vorort Gittersee: die sechzehnjährige Karin hütet ihre kleine Schwester und hilft der renitenten Großmutter, die ihrer Zeit als Wehrmachtshelferin in Nazi-Deutschland hinterhertrauert, im Haushalt. Karins Vater verzweifelt an der Reparatur seines Škodas, wie an der des Familienlebens, und ihre Mutter würde am liebsten ein anderes Leben führen. Aufgehoben fühlt sich Karin allein bei ihrer Freundin Marie, dem einzigen Mädchen in der Klasse, das später nicht etwas machen, sondern etwas werden will: die erste Frau auf dem Mond. Und Karin ist verliebt: in ihren Freund Paul, der gerne Künstler wäre, aber im Schacht beim Bergbauunternehmen Wismut arbeitet. Als Paul zu einem Ausflug aufbricht und nicht mehr zurückkommt, stehen eines Nachts zwei Uniformierte vor der Tür, und Karins Welt gerät aus den Fugen. In ihrem Debütroman erzählt Charlotte Gneuß von einer Welt, die es nicht mehr gibt und geht der Frage nach, ob Unschuld möglich ist.