Die vier Literaturexpert*innen diskutieren über die Bücher von Emmanuel Carrère, Nele Pollatschek, Thomas Hettche, Steffen Kopetzky.
Emmanuel Carrère
Am Freitag, den 13. November 2015 ermordeten IS-Terroristen in der Pariser Musikhalle Bataclan 90 überwiegend junge Konzertbesucher, auf den Terrassen mehrerer Cafés und vor einem Fußballstadion sprengten sich weitere Terroristen in die Luft. 131 Menschen überlebten die Nacht des Grauens nicht und fast 700 wurden verletzt. Frankreich durchlitt ein nationales Trauma, das bis heute fortwirkt. Im September 2021 begann der von den Insidern "V 13" (Vendredi 13) genannte Prozess, in dem Hunderte von Perspektiven abgewogen und schließlich ein Urteil gefällt wurde. Emmanuel Carrère besuchte den Prozess über neun Monate lang Tag für Tag, schrieb wöchentlich eine Kolumne aus dem Gerichtssaal, berichtete über Akteure, das Grauen, unverhoffte Menschlichkeit und die Maschinerie der Rechtsprechung. Er erzählt, was er gehört und erfragt hat: Wer waren die Opfer, wer die Täter? Wie entsteht Terrorismus? Warum ist passiert, was passiert ist? Carrères Gerichtsreportage ist auch das Portrait einer Gesellschaft, die in ihren Grundfesten erschüttert wurde und nach Heilung sucht.
Nele Pollatschek
Steuererklärung, Wohnung putzen, ein Bett zusammenschrauben, Lebenswerk schreiben, mit dem Rauchen aufhören. Es ist der 31. Dezember und der neunundvierzigjährige Lars hatte sich vorgenommen, endlich alles zu erledigen, was in den letzten Dekaden so auf der Strecke geblieben ist. Das neue Jahr, so der Plan des angehenden Schriftstellers, soll in einem aufgeräumten Leben beginnen, eine To-do-Liste dabei helfen. Der Zeitpunkt dafür scheint perfekt: die Kinder im Auslandsjahr, die Frau unterwegs. Keiner da, der stören könnte. Doch die Woche, in der noch alles zu schaffen gewesen wäre – plötzlich ist sie aufgebraucht. Der letzte Tag des Jahres hat begonnen und das Haus ist noch immer chaotisch. Das Leben sowieso. Als sich Lars an den ersten Punkt seiner To-do-Liste macht, fühlt es sich an, als müsse er nicht nur sich selbst, sondern eine ganze Welt neu erfinden. Aus einer To-do-Liste entsteht ein Roman über Chaos und die Sehnsucht nach Ordnung, über perfekte Kinder und weniger perfekte Eltern, über die Liebe und darüber, wie schwer es ist, einfach nur zu leben. Vor allem aber erzählt Nele Pollatschek von der Schwierigkeit, sein Leben nicht auf später zu verschieben.
Thomas Hettche
Der Autor reist nach dem Tod seiner Eltern in die Schweiz, um das Ferienhaus zu verkaufen, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Doch was realistisch beginnt, wird schnell zu einer fantastischen, magischen Geschichte, in der nichts ist, was es zu sein scheint. Ein Bergsturz hat das Rhonetal in einen riesigen See und das Wallis in eine mittelalterliche Welt verwandelt. Sindbad und Odysseus tauchen auf, auch eine unheimliche Bischöfin erscheint und Fragen werden aufgeworfen nach Gender und Geschlecht, ebenso wie Erinnerungen an Sommertage auf der Alp und eine Jugendliebe des Erzählers. Hettche erzählt von grandiosen alpinen Naturräumen und ihren Bewohnern, von in Vergessenheit geratenen Lebensformen, denen heute, in einer durch Umweltzerstörung und Identitätszweifel verunsicherten Welt, neue Bedeutung zukommt. Im Kern aber kreist der Roman um die Frage, welcher Trost im Erzählen liegt und was es in den Umbrüchen und Verwerfungen unserer Zeit zu verteidigen gilt.
Steffen Kopetzky
Moskau, 1923. Larissa Reissner hat als sowjetische Gesandte in Kabul strategische Pläne entdeckt, die das Britische Empire stürzen könnten. In der afghanischen Hauptstadt, wo man die Weltordnung neu denkt und aus den Angeln heben will, sucht sie nach dem Verfasser, einem Deutschen namens Niedermayer. Denn der Sieg der Freiheit ist Reissners ganzer Lebensinhalt, die junge Schriftstellerin und Revolutionärin wird als Wundertochter ihrer Epoche gefeiert. Von Moskau bricht Reissner auf nach Berlin – zu ihrer größten Mission: Sie soll ein geheimes Bündnis schmieden zwischen dem deutschen Militär und der Sowjetunion, verkörpert durch Marschall Tuchatschewski, dem "roten Napoleon" und dem schillernden Ritter von Niedermayer. Doch Larissa verfolgt eigene Ziele. Zwischen ihr und den beiden Männern entspinnt sich ein Beziehungsgeflecht von enormer Sprengkraft – in amouröser wie politischer Hinsicht.
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