Wie einsatzfähig sind Putins Atomwaffen?

    Faktencheck

    Gerüchte um veraltetes Arsenal:Wie einsatzfähig sind Putins Atomwaffen?

    Oliver Klein
    von Oliver Klein
    |

    Putin hat keine funktionierenden Atombomben - das behauptet ein Ex-KGB-Spion, der nun von vielen Medien zitiert wird. Von ZDFheute befragte Atomwaffenexperten bezweifeln das.

    Atomrakete auf einem Militärfahrzeug bei Parade
    Interkontinentalrakete bei Parade auf dem Roten Platz in Moskau (Archivbild): "Wunschvorstellung, dass bei den Atombomben gar nix mehr funktioniert."
    Quelle: ap

    Ist Russlands Säbelrasseln mit Atomwaffen in Wahrheit nur ein großer Schwindel? Diesen Eindruck konnte man bekommen, wenn man die Schlagzeilen dieser Woche sah: "Putin hat keine Atombomben mehr", titelte die "Bild"-Zeitung, "Ex-KGB-Agent ist sich sicher: Putin 'blufft' im Ukraine-Krieg", schrieb die "Frankfurter Rundschau", ähnlich wie der "Münchner Merkur", der "Kölner Express" und etliche andere Medien.
    Was steckt dahinter? Die Spekulationen ausgelöst hatte Juri Schwez, ein ehemaliger Spion des sowjetischen Geheimdienstes KGB. In einem Interview mit dem ukrainischen Fernsehsender "Priamyi" sagte Schwez: "Ich vermute stark, so wie auch andere Fachleute, dass Atomwaffen in der Russischen Föderation nicht mehr existieren." Der Grund: Nukleare Sprengköpfe müssten regelmäßig gewartet werden. "Ich glaube alle zehn Jahre muss das Plutonium ersetzt werden, sonst wird es für seinen Zweck unbrauchbar", so Schwez.
    Plutonium werde aber in der Russischen Föderation nicht mehr hergestellt. Daher sei es "durchaus möglich", dass auf jeder Rakete statt eines Atomsprengkopfs eine Attrappe ist. Die Eskalation sei daher weitgehend "Bluff", so Schwez. Putins Drohung mit Atomwaffen sei "Erpressung" - und das sei schon "die Waffe an sich."

    Experten sehen Aussagen von Schwez kritisch

    An anderer Stelle behauptet Schwez, Putin habe in Wahrheit "nichts vorzuweisen". Er sei deshalb auch aus dem Atomwaffenabkommen "New Start" ausgetreten: "Der Kreml hat Angst, dass ausländische Inspektoren rostigen Müll statt Atomsprengköpfe finden", zitiert ihn das ukrainische Newsportal "dialog.ua". Man dürfe die Bedeutung der russischen Bedrohung durch Atomwaffen nicht überschätzen und muss verstehen, "dass dies ein Bluff ist".
    Doch wie seriös sind diese Aussagen? Der ukrainische Militärexperte Oleg Schdanow hält Schwez grundsätzlich für eine zuverlässige Quelle, wie er in einem Youtube-Video erklärt. Er schränkt ein, dass niemand mit Sicherheit wissen könne, wie funktionsfähig Russlands Atomwaffen tatsächlich seien. Die Lagerbedingungen könnten beispielsweise aufgrund von Korruption "äußerst schlecht" sein. Russland könne auch keine Atomtests durchführen, "weil es ein weltweites Moratorium für Atomexplosionen gibt und derzeit praktisch niemand dagegen verstößt".
    ZDFheute hat weitere Atomwaffen-Experten um eine Einschätzung gebeten. Alle befragten Wissenschaftler halten es übereinstimmend für vollkommen unrealistisch, dass Russland überhaupt keine funktionstüchtigen Atomwaffen mehr hat.

    New-Start-Inspektionen seit Corona-Pandemie ausgesetzt

    Ulrich Kühn, Leiter des Forschungsbereichs Rüstungskontrolle und Neue Technologien am Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik vermutet eine "bewusste Falschinformation":

    Fakt ist, dass Russland fast 6.000 Nuklearwaffen besitzt. Selbst wenn die Hälfte dieser Waffen nicht einsatzfähig wäre, hätte Russland noch immer genug Sprengkraft um den gesamten Globus in Schutt und Asche zu legen.

    Ulrich Kühn, Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik

    Ähnlich sieht das Atomwaffen-Experte Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr in München: Wären die Atomwaffen in so einem schlechten Zustand wie behauptet, dann wäre das bei den New-Start-Inspektionen schon aufgefallen - "und ziemlich sicher auch durchgesickert". Zuletzt hatten die gegenseitigen Inspektionen vor der Corona-Pandemie stattgefunden.

    Experte: Atomwaffen halten Jahrzehnte lang

    Generell gibt Sauer zu bedenken: "Angesichts der Größe des russischen Arsenals wäre es eine Wunschvorstellung, dass bei den Atombomben gar nix mehr funktioniert. Ich würde mich nicht drauf verlassen." So viel Korruption und Schluderei könne es gar nicht geben, dass am Ende keine Atombombe mehr funktionieren würde - dafür sei die schiere Anzahl der Waffen einfach zu groß.

    Atom-Hysterie in vielen Medien
    :Falschmeldung zu Putins "Atomschiffen"

    "Putin bringt Atomschiffe in Stellung" - die Meldung mancher Medien beunruhigte viele. Doch es ist offenbar eine Falschmeldung, die Fehlinterpretation eines Geheimdienstberichts.
    von Oliver Klein
    Atom-U-Boot
    Zudem würden Atomwaffen eben nicht nach bereits zehn Jahren ohne Wartung sofort unbrauchbar. Grundsätzlich hätten solche Waffen eine lange Lebensdauer:

    Atomwaffen halten Jahrzehnte lang. Es gibt Schätzungen aus den USA, nach denen Atomwaffen 70, 80 Jahre funktionsfähig bleiben.

    Frank Sauer, Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr, München

    Russland verfüge auch noch "über einen ganzen Haufen Plutonium", auch wenn die letzte Plutonium-Fabrik 2010 geschlossen worden sei, erklärt Sauer. Kühn ergänzt, Russland sei auch nicht zwangsläufig nur auf Plutonium zum Bombenbau angewiesen. "Dafür könnte es auch hoch angereichertes Uran verwenden" - und auch darüber verfüge Russland in ausreichenden Mengen.

    Russland verfügt über riesige Bestände von Spaltmaterial

    Lydia Wachs, Expertin für Sicherheit bei der Stiftung Wissenschaft und Politik weist darauf hin, dass auch Einschätzungen des International Panel on Fissile Materials, einer Gruppe unabhängiger Nuklearexperten, die großen Bestände an atomwaffenfähigem Material belegen. Wachs rät, auch Moskaus Wartungsarbeiten an Kernwaffen nicht zu unterschätzen:

    Russland befindet sich in den letzten Zügen eines massiven Modernisierungsprogramms seiner Nuklearstreitkräfte. Angesichts der Bedeutung, die das eigene Nuklearpotenzial für Moskau hat sowie der langjährigen technischen Erfahrung halte ich es für sehr unwahrscheinlich, dass hier die Wartung fahrlässig abläuft.

    Lydia Wachs, Stiftung Wissenschaft und Politik

    "Auch US-Angaben lassen keine grundsätzlichen Zweifel an Russlands Nuklearpotenzial aufkommen", so Wachs. 
    Und wie wirken sich die gegen Russland verhängten Sanktionen auf die nukleare Abschreckungsfähigkeit des Landes aus? "Gut möglich, dass die Trägersystemproduktion, also Raketen in puncto Halbleiter betroffen ist oder war", erklärt Sauer. "Aber das Problem dürfte Russland dank China lösen oder bereits gelöst haben."
    Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:

    Russland greift die Ukraine an
    :Aktuelles zum Krieg in der Ukraine

    Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.
    Patriot-System
    Liveblog

    Aktuelle Nachrichten zur Ukraine