Bergkarabach: Ende eines Staats, den es nie geben durfte

    Analyse

    Flucht aus Bergkarabach:Ende eines Staats, den es nie geben durfte

    von Nina Niebergall
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    International war Bergkarabach nie anerkannt. Nach dem Massenexodus soll es offiziell aufhören, zu existieren. Was das bedeutet und welche Rolle Russland dabei spielt.

    28.09.2023 Armenien, Armenier aus Berg-Karabach sitzen auf Plastiktüten
    Seit Jahrzehnten schwelt der Konflikt um Bergkarabach. Jetzt haben die örtlichen Behörden ihre Selbstauflösung beschlossen. Und der Exodus der armenischen Bevölkerung geht weiter.28.09.2023 | 2:48 min
    Boris Khosrovjan kann es nicht glauben. "Nein, nein, das sind leere Worte", sagt er unserem ZDF-Team im armenischen Grenzort Goris. Er zeigt uns seine Mitgliedskarte einer Veteranenorganisation. Da stehe es doch, Republik Arzach. Arzach nennen die Armenier*innen Bergkarabach. Er ist wie Zehntausende andere aus Angst vor aserbaidschanischer Unterdrückung und Gewalt nach Armenien geflohen.

    Wir werden wieder ein eigener Staat sein. Ich habe damals gekämpft und gewonnen.

    Boris Khosrovjan, Geflüchteter aus Bergkarabach

    Dann entschuldigt er sich. Er könne nicht viel dazu sagen. Er habe kürzlich einen Todesfall in der Familie gehabt, sei nicht in der Stimmung, darüber zu reden.

    Behörden geben Auflösung der Republik Arzach bekannt

    Auf den Straßen von Goris in Armenien bekommen die Flüchtlinge aus Bergkarabach kaum mit, dass ihr Regierungschef der selbsternannten Republik Arzach am Vormittag auch offiziell ein Ende macht. Samwel Schachramanjan unterzeichnet ein Dokument, das die Auflösung aller Behörden bis zum 1. Januar 2024 beschließt. "Dann beendet auch die Republik Arzach ihr Bestehen", heißt es darin.
    Karte: Armenien - Aserbaidschan - Bergkarabach
    Karte: Armenien - Aserbaidschan - Bergkarabach.
    Quelle: ZDF

    Zu beschäftigt sind die Menschen damit, zu überleben. Etwas zu essen zu bekommen. Einen Platz zum Schlafen zu finden. Schätzungen zufolge sind allein in Goris inzwischen 20.000 Menschen aus Bergkarabach angekommen. Insgesamt sind es laut armenischen Angaben 70.000 Flüchtlinge. Vertrieben, sagen sie.

    Mehr als die Hälfte der armenischen Bewohner geflohen

    Das ist mehr als die Hälfte aller Armenier*innen, die vor dem Angriff Aserbaidschans noch in der kleinen Kaukasus-Region lebten. Womöglich deutlich mehr. Offiziell war zuletzt immer die Rede von 120.000 Einwohner*innen. Aber niemand weiß das so genau, weil Aserbaidschan Bergkarabach monatelang abgeriegelt hatte. Internationale Beobachter oder Journalist*innen werden schon lange nicht mehr reingelassen.
    ZDF-Korrespondentin Nina Niebergall
    Die Führung von Bergkarabach hat das Ende der selbsternannten Republik beschlossen. Was die Auflösung für die Menschen dort bedeutet, berichtet ZDF-Korrespondentin Nina Niebergall.28.09.2023 | 1:02 min
    Violetta Mkrtchjan ist ebenfalls geflohen. Sie habe davon gelesen, dass es bald keine Republik Arzach mehr geben wird.

    Aber wir wissen auch schon längst, dass unser Land verloren ist. Wenn wir hier sind, gibt es kein Arzach mehr.

    Violetta Mkrtchjan, Geflüchtete aus Bergkarabach

    Mit der Auflösung der nicht anerkannten Republik haben die Behörden lediglich offiziell gemacht, was sich seit Tagen immer deutlicher abzeichnet. Ein Bergkarabach, in dem mehrheitlich Armenier*innen leben, gibt es nicht mehr. Nicht nur scheint jeder zu fliehen, der kann. Auch haben zahlreiche Armenier ihre Waffen längst abgegeben. Die ersten politischen Funktionäre werden von der aserbaidschanischen Polizei festgenommen, oder ergeben sich.
    Aserbaidschanischer Kontrollpunkt am Eingang zum Latschin-Korridor
    Das Auswärtige Amt fürchtet, dass Bergkarabach bald menschenleer sein könnte. Seit der Eroberung durch Aserbaidschan haben bereits etwa 65 Prozent der Bevölkerung den Ort verlassen.29.09.2023 | 0:19 min

    Regierungschef Ruben Wardanjan festgenommen

    Besonders pikant ist der Fall Ruben Wardanjan, der gestern festgenommen wurde. Es dauerte nicht lange, da sah man ihn in Handschellen auf Social Media. Er war bis Februar Regierungschef der selbsternannten Republik Bergkarabach. Der Vorwurf Aserbaidschans: Terrorismus und dessen Finanzierung. Wardanjan war eigentlich mal Russe und einer der reichsten noch dazu. Erst als er 2022 das Amt in Bergkarabach übernahm, gab er seine Staatsbürgerschaft auf.
    Tausende fliehen aus Bergkarbach mit dem Auto.
    Mindestens 20 Menschen sind bei einer Explosion in der Konfliktregion gestorben, Hunderte wurden verletzt. 26.09.2023 | 3:15 min
    Doch Moskau hat offenbar die Seiten gewechselt und lässt ihn mitsamt seinem Miniaturstaat untergehen. Bergkarabach sei "eine innere Angelegenheit Aserbaidschans" und Aserbaidschan handele "auf seinem eigenen Territorium, das von der Führung Armeniens anerkannt wurde", betonte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Und: Einen "direkten Grund" für die Flucht gebe es auch nicht.

    Russland schaut zu, wie Bergkarabach aufgelöst wird

    Das heißt: Russland schaut zu, wie Aserbaidschan Fakten schafft. Auch Europa und die USA halten sich politisch zurück in dem komplizierten Konflikt im Kaukasus, der ihre geopolitischen Interessen durcheinanderbringt.

    Ich denke, Russland hat hier in der vergangenen Woche keine konstruktive Rolle gespielt. Es gab Zeiten, da hat Russland Verhandlungen ermöglicht, dieses Mal nicht.

    Matthew Miller, Sprecher des US-Außenministeriums

    Schaltgespräch Niebergall
    Fehlendes Vertrauen in Aserbaidschans Regierung treibt Tausende aus Bergkarabach nach Armenien, so Nina Niebergall, ZDF-Reporterin vor Ort.26.09.2023 | 1:09 min
    Im vergangenen Jahr unterzeichnete die EU ein Gasabkommen mit Baku. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen pries das autoritär regierte Aserbaidschan sogar als einen "entscheidenden Partner" bei der Bewältigung der Energiekrise.
    International anerkannt war die 1991 ausgerufene Unabhängigkeit Bergkarabachs nie. Doch kontrollierten die ethnischen Armenier*innen die Region weitgehen, bauten politische Strukturen auf. Bald gibt es ihn auch offiziell nicht mehr, diesen Staat, den viele nicht wollten. Und der doch Heimat für Zehntausende war.
    Nina Niebergall ist ZDF-Korrespondentin für Russland, die Kaukasusregion und Zentralasien.

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