Wahlrechtsreform: Warum das BVerfG ein altes Gesetz prüft

    BVerfG zu Wahlrechtsreform:Warum Karlsruhe jetzt ein altes Gesetz prüft

    von Jan Henrich
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    Seit März ist - zur Verkleinerung des Bundestags - ein neues Wahlrecht beschlossen. Nun verhandelt das Bundesverfassungsgericht über das Vorgängergesetz.

    Dass die bisherigen Regelungen von 2020 abgelöst werden, ist so gut wie beschlossene Sache. Dennoch verhandeln die Verfassungshüter in Karlsruhe heute darüber, ob die vorherige Wahlrechtsreform mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
    Deren Entscheidung über das Gesetz von 2020 könnte gleich aus zweifacher Sicht noch relevant werden: Als Hinweis in der aktuellen Diskussion und als Grundlage für eine mögliche Wiederholung der Bundestagswahl in 431 Berliner Wahlbezirken.
    Richter des Bundesverfassungsgericht
    Durch eine Wahlrechtsreform soll der Bundestag reduziert werden. Das Bundesverfassungsgericht verhandelt heute eine Klage aus der Regierungszeit Großen Koalition von 2020.18.04.2023 | 1:49 min

    Wahlrechtsreform 2020: Ausgleich durch Überhangmandate verändert

    Die große Koalition hatte ihr Gesetz in der vergangenen Legislaturperiode auf den Weg gebracht. Wie bei der diesjährigen Wahlrechtsreform, war auch im Herbst 2020 die Intention, den Bundestag zu verkleinern oder zumindest ein weiteres Aufblähen des Parlaments durch Überhang- und Ausgleichsmandate zu verhindern.
    Union und SPD entschieden damals, dass Überhangmandate erst ab dem vierten überzähligen Direktmandat, das eine Partei in einem Bundesland erhält, ausgeglichen werden. Außerdem sollten Listen- und Wahlkreismandate einer Partei länderübergreifend angerechnet werden.
    "Ungeeignet", zu "kompliziert" und "eine Extrawurst für CDU und CSU" wetterte damals die Opposition: 216 Abgeordnete von Grünen, Linke und FDP zogen gegen die Reform vor das Bundesverfassungsgericht.

    BVerfG lässt Verfahren zu Wahlrechtsreform 2020 nicht ruhen

    Zwischenzeitlich steht ein neues Wahlgesetz in den Startlöchern. Die Fraktionen der Ampel-Koalition hatten sich im März dieses Jahres darauf geeinigt. Sobald es in Kraft tritt, werden die meisten der 2020 beschlossenen Änderungen gegenstandslos.
    Einen Antrag der früheren Oppositionsfraktionen, das Verfahren in Karlsruhe deshalb ruhen zu lassen, lehnte das Gericht allerdings ab. Es gebe immer noch ein großes Interesse festzustellen, ob die aktuellen Bundestagsabgeordneten auf Grundlage eines rechtmäßigen Wahlgesetzes gewählt wurden.

    Auswirkungen auf Wiederholungswahl in Berlin

    Außerdem steht noch eine weitere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an, bei der die alte Reform als Grundlage dient: Die Wahlpannen 2021 in Berlin hatten nicht nur die dortige Abstimmung zum Abgeordnetenhaus betroffen, die schon wiederholt werden musste, sondern auch die zeitgleich stattfindende Bundestagswahl.
    Auch hier soll nach einem Beschluss des Bundestags eine Wiederholung stattfinden, zumindest in 431 Berliner Wahlbezirken. Der Beschluss wird derzeit vom Bundesverfassungsgericht überprüft. Dabei spielt auch eine Rolle, auf welcher Rechtsgrundlage die Wiederholung durchgeführt werden müsste.

    Politik erwartet Leitlinien für künftige Verfahren zum Wahlrecht

    Aber auch mittelbar könnte das aktuelle Verfahren noch Kreise ziehen. Beobachter erwarten, dass die Karlsruher Richter die Gelegenheit nutzen, um weitere Grundsätze im Wahlrecht aufzustellen. Vor allem drei Bereiche könnten dabei interessant werden, so Staatsrechtsexperte Joachim Wieland:
    Zum einen die Fragen, wie bestimmt und verständlich Wahlgesetze sein müssen. Ein Kritikpunkt an der Reform von 2020 war, dass Bürger ohne komplexe Berechnungen kaum noch überblicken könnten, wie die Zusammensetzung des Parlaments letztlich zustande kommt. Auch die Formulierung im Gesetz sei teilweise missverständlich.
    Zum anderen befasst sich das Gericht auch mit dem Grundsatz der Chancengleichheit für die Parteien, und drittens mit der Frage, wie sich Änderungen am System der Überhangs- und Ausgleichsmandate darauf auswirken können.
    Gerade dieser Punkt könnte auch für die verfassungsrechtliche Bewertung der neuen Wahlrechtsreform eine Rolle spielen. Die aktuelle Opposition, Union und Linke, hatten bereits angekündigt auch das im März dieses Jahres beschlossene Gesetz in Karlsruhe vorzulegen.
    Jan Henrich ist Autor in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.

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