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Nach Wahlrechtsreform:36 Wahlkreissieger könnten leer ausgehen
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Der Bundestag sollte schrumpfen - da waren sich alle einig. Doch wie sich nun zeigt, hat die Wahlrechtsreform eine bislang unterschätzte Folge, die zu großem Frust führen könnte.
Die Freude war seinerzeit groß. "Historisch" nannten manche Abgeordnete der Ampel-Regierung die Wahlrechtsreform, die sie vor knapp zwei Jahren beschlossen haben. Und in der Tat hatten sie eines geschafft: Nachdem sich der Bundestag zuvor immer mehr aufgebläht hatte - auf zuletzt 736 Abgeordnete - wurde die Zahl nun auf 630 festgeschrieben.
Das sind zwar immer noch fast 100 mehr, als sich zum Beispiel das 335-Millionen-Einwohner-Land USA gönnt. Immerhin aber war der ausufernde Trend gestoppt, der durch Überhang- und Ausgleichsmandate zu immer mehr Abgeordneten und dadurch immer mehr Mitarbeitern und immer höheren Kosten geführt hatte.
Quelle: ZDF
Mehr zu dem Thema sehen Sie am Sonntag um 19:10 Uhr bei "Berlin direkt" im ZDF und in der ZDF-Mediathek.
Wahlrechtsreform: Zweitstimme vor Erststimme
Nach einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wurde ein Teil der Reform zwar zurückgedreht - ein Kernbestandteil aber blieb bestehen: Jener, wonach die Wahlkreissieger künftig nur dann in den Bundestag einziehen, wenn ihre Partei in ihrem Bundesland ein ausreichendes Zweitstimmenergebnis vorweist.
Falls nicht, kann der Einzug in den Bundestag verwehrt bleiben - trotz eines Triumphs im Wahlkreis. Aus dem "Direktmandat" wird so gewissermaßen ein Vielleicht-Mandat. Allerdings sei dieser Effekt überschaubar - allenfalls eine Handvoll Wahlkreise werde dies betreffen, hieß es von Befürwortern der Reform. Berechnungen der Universität Freiburg, die ZDFheute exklusiv vorliegen, zeigen, dass es deutlich mehr werden könnten.
Experte: Könnte bis zu 36 Wahlkreise betreffen
"Im Höchstfall - wenn wir jetzt die aktuellen Umfragen zugrunde legen - werden es wohl bis 36 Mandate sein", sagt der Politikwissenschaftler Uwe Wagschal, der die Untersuchung gemeinsam mit seinem Kollegen Sebastian Jäckle erstellt hat.
Es hängt unter anderem davon ab, wie viele Parteien ins Parlament kommen oder an der 5-Prozent-Hürde scheitern.
Uwe Wagschal, Politikwissenschaftler
Ein Beispiel: Die CDU könnte in Baden-Württemberg nach aktuellen Umfragen fast alle Wahlkreise gewinnen. Wenn sie im Zweitstimmen-Ergebnis - der eigentlichen Hauptstimme - die derzeit prognostizierten rund 30 Prozent erhält, hieße es allein dort für acht Wahlkreissieger: Wir müssen draußen bleiben.
Wahlkreise: Prozente bestimmen über Einzug
Wem der Einzug verwehrt bleibt, hängt vom erzielten Prozentsatz ab. Wer seinen Wahlkreis zum Beispiel mit nur rund 25 Prozent der Stimmen gewinnt, dessen Chancen schwinden. Genau dazu aber kann es gerade in eng umkämpften Wahlkreisen kommen - typischerweise in Großstädten, wo der demokratische Konkurrenzkampf ausgeprägter ist als in vielen ländlichen Gegenden.
"Das ist natürlich problematisch, denn hier findet ja ein besonders starker politischer Wettbewerb statt - und wenn es dann am Ende heißt: Pech gehabt, du kommst nicht rein ins Parlament, dann führt das sicherlich zu Frustration", so Wagschal, "sowohl bei den Kandidaten als auch in der Wählerschaft."
Experte: "Verwaiste Wahlkreise" in Großstädten
Jörg Siegmund von der Akademie für Politische Bildung in Tutzing pflichtet bei: "Vor allen Dingen in Großstädten werden wir künftig wahrscheinlich verwaiste Wahlkreise haben." Wenn niemand über die Landesliste einzieht, haben viele Wähler damit keinen Vertreter im Bundestag. Die Folge wäre, "dass die Interessen der Großstädte im Bundestag künftig unterrepräsentiert sind. Das halte ich für problematisch."
Je mehr Parteien ins Parlament einziehen, desto stärker ist der Effekt. Umgekehrt gilt also: Sollten es FDP, Linke und BSW allesamt nicht in den nächsten Bundestag schaffen, wäre die Zahl betroffener Wahlkreissieger geringer. Weil die großen Parteien dann mehr der 630 Mandate bekämen - und zu verteilen hätten.
Unabhängig davon hat die Union bereits angekündigt, das Wahlrecht erneut ändern zu wollen. Um aus diesem Kreislauf auszubrechen, brauche es einen parteiübergreifenden Konsens, so Wagschal. Lösungen gäbe es - auch ohne dass sich der Bundestag wieder stark aufbläht:
Die erste Maßnahme wäre die Reduzierung der Wahlkreise, runter von den 299 auf 250. Zweitens müsste man Bundeslisten einführen, wie man es von der Europawahl kennt, anstelle der Landeslisten. Drittens könnte man eine geringe Zahl an Überhangmandaten wieder zulassen - so ließe sich das Problem im Wesentlichen beseitigen.
Uwe Wagschal, Politikwissenschaftler
Quelle: dpa
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