Nahostkonflikt: Es braut sich was zusammen

    Gewalt eskaliert:Nahostkonflikt: Es braut sich etwas zusammen

    von Michael Bewerunge
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    Der israelisch-palästinensische Konflikt geht in eine neue Phase. Die Gewalt eskaliert wie seit Jahren nicht.

    Kinder rennen, während israelische Soldaten am 29. Juni 2023 im besetzten Dorf Orif im Westjordanland, südlich von Nablus, Stellung beziehen, während sie eine Suchaktion nach gesuchten Palästinensern durchführen.
    Israelische Streitkräfte im Westjordanland
    Quelle: AFP

    Zwischen Wunsch und Wirklichkeit sind es oft nüchterne Zahlen, die einer Gesellschaft den Spiegel vorhalten. In Israel ist es die traurige Zahl der Toten seit Jahresbeginn.

    Israel tötet Terroristen und seine Familie

    Da ist zunächst einmal die Zahl der Israelis, die dieses Jahr durch Terroranschläge von Palästinensern starben. Deren einziges Ziel: so viele Zivilisten wie möglich treffen. Mindestens 24 getötete Israelis, schon zur Mitte des Jahres - seit sieben Jahren gab es das nicht.
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    Auf palästinensischer Seite gab es bisher 141 Tote (Stand 03.07.), schon jetzt die höchste Zahl seit über zehn Jahren. Die meisten davon militante Kämpfer oder Terroristen, getötet in Gefechten mit israelischen Soldaten. Aber es gibt auch viele zivile Opfer. Bei einer gezielten Tötung eines Anführers der Terrorgruppe "Islamischer Dschihad" wurde billigend in Kauf genommen, dass seine Kinder und Frau ebenfalls dabei starben.
    Noch eine Zahl, die selten von der Weltöffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird: Mindestens 110 getötete Israelis arabisch-palästinensischer Herkunft. Mehr Menschen als je zuvor werden in diesem Jahr Opfer mafiöser Gewaltkriminalität im arabischen Sektor Israels. Gegen die scheint der Staat, der sonst mit enormem Aufwand Terroristen zur Rechenschaft zieht, kein Mittel zu finden.
    Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant (r) sitzt in einem Einsatzraum der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF), während er eine nächtliche Operation in der Stadt Dschenin verfolgt.
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    Regierung mit vollmundigen Sicherheitsversprechen

    Die Realität dieser Zahlen steht in scharfem Kontrast zu den vollmundigen Ankündigungen der israelischen Regierung vor und nach ihrer Wahl letztes Jahr. Vor allem zu denen des Ministers für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, der immer wieder mit rechtsextremen und rassistischen Äußerungen auffällt. Er hatte schon im Wahlkampf versprochen, die Ordnung im Land wieder herzustellen.
    Soldaten im Angriff mit der Stadt Jerusalem im Hintergrund
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    Unter dem Motto "Wer ist hier der Herr im Land?" gab er ein Sicherheitsversprechen ab: Weniger Attentate auf Israelis, Eindämmung der Gewalt im Westjordanland und auch die Bekämpfung der tödlichen Kriminalität im arabischen Sektor. Viele Israelis haben ihn nur deshalb gewählt.

    Sicherheitspolitik wenige Monate nach der Wahl gescheitert

    Doch nach nur wenigen Monaten ist seine Politik und die der extremistischen Siedler-Parteien auf ganzer Linie gescheitert. Die Strategie staatlicher Härte und der gewaltsamen Unterwerfung der Palästinenser bei gleichzeitiger Ausweitung der Besiedlung des Westjordanlandes hat versagt.
    Das Versprechen von mehr Sicherheit wurde nicht nur nicht eingelöst, die Situation hat sich sogar verschlimmert. Qualität und Intensität des israelisch-palästinensischen Konflikts verändern sich gerade - zum Schlechten.
    Während einer Demonstration halten mehrere Menschen Schilder in die Luft und schreien. Auf einem der Schilder steht die Aufschrift "Jeden 2. Tag tötet Israel ein Kind in Palästina".
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    Israel führt immer größere Militäreinsätze und Razzien durch

    Das beginnt bei Art und Umfang der israelischen Militäreinsätze und Razzien im Westjordanland. Die werden von israelischer Seite immer aufwändiger geplant und mit immer größerer Feuerkraft durchgeführt. Aber auch palästinensische Kämpfer rüsten auf.
    Die Folge: Zum ersten Mal seit 20 Jahren griff kürzlich ein "Apache"-Kampfhubschrauber in die Kämpfe am Boden in Jenin ein, weil Milizionäre dort mit einer Sprengfalle eine ganze Kolonne gepanzerter Fahrzeuge außer Gefecht gesetzt hatten.

    Video von Raketenstart im Westjordanland

    Und nachdem Israelis zum ersten Mal seit 18 Jahren wieder mit einer bewaffneten Drohne ein mutmaßliches Terrorkommando der Hamas gezielt getötet hatten, veröffentlichte eine palästinensische Widerstandszelle ein Video vom Start einer Rakete im Westjordanland.
    Die stürzte zwar schon nach wenigen Metern ab. Aber die Vorstellung, das Westjordanland könnte zu einem zweiten Gaza mit unkontrollierbaren Raketenangriffen werden, ist für Israelis ein Horrorszenario.

    Die Zeiten, in denen die internationale Gemeinschaft eine Rolle in diesem Konflikt gespielt hat, sind leider vorbei. Staaten, die in den vergangenen Jahrzehnten Friedensinitiativen auf den Weg brachten, schauen inzwischen nur noch zu, beziehungsweise weg. Ein paar harsche Worte der Kritik zu den Siedlungsplänen von USA, EU und den Vereinten Nationen, ein paar gestrichene Forschungsprojekte in Siedlungen. Das war’s. Niemand hat auch nur einen Plan für einen Plan, geschweige denn einen noch so kleinen Ansatz für eine friedliche Lösung des Konflikts.

    Ein weiteres Problem: Die palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah hat längst nicht nur die Kontrolle über Städte wie Nablus oder Jenin verloren. Jeden Tag wenden sich mehr militante Kämpfer von Mahmud Abbas und seinem undemokratischen Regime ab. Im Westjordanland nennt man Abbas bereits spöttisch den "Bürgermeister von Ramallah". Ein isolierter Präsident, der nur vom Westen und von Israel an der Macht gehalten wird. Irgendwie kommt einem das bekannt vor: Auch der Präsident von Afghanistan trug vor seinem Sturz den Spitznamen "Bürgermeister von Kabul". Der Rest ist Geschichte.

    Dazu versucht Israels Erzfeind Iran zunehmend im Westjordanland Fuß zu fassen. Das geschieht vor allem durch gezielte Unterstützung der verbündeten Terrorgruppe "Islamischer Dschihad". Doch es gibt Berichte, dass Iran weitere Verbündete sucht und offensiv Waffen anbietet.

    Neues Phänomen der Gegengewalt

    Nach den palästinensischen Mordanschlägen in diesem Jahr tritt vermehrt ein neues Phänomen der Gegengewalt auf. Mehrfach rotteten sich hunderte Siedler zu einem Mob zusammen und fielen in pogromartigen Angriffen über palästinensische Dörfer her.
    Dort zündeten sie in einer Kollektivbestrafung Häuser, Autos, und Felder an und attackierten die Bewohner. Zwei Palästinenser kamen bei den Angriffen ums Leben. Die israelische Armee griff bisher nur sehr verhalten ein. Im Vergleich zum Schutz von Israelis und dem Aufwand zur Ergreifung palästinensischer Terrorristen, drängt sich der Eindruck von zweierlei Maß auf.

    Siedlerparteien propagieren Gewalt

    Orchestriert wird diese Gewalt von der Hetze der beiden Siedlerparteien und ihrer Vorsitzenden Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, dem Finanzminister.
    Der forderte unlängst als Reaktion auf einen Terroranschlag, ein ganzes palästinensisches Dorf dem Erdboden gleich zu machen. Nicht die Siedler sollten dies tun, das sei Aufgabe der israelischen Armee. Innerhalb der Regierung gab es für diesen rassistischen Aufruf zu einem stattlichen Gewaltverbrechen nicht mal ein Stirnrunzeln.

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    Israel treibt Siedlungsausbau voran

    Ganz im Gegenteil hat Smotrich von der Regierung die Genehmigung bekommen, den - nach internationalen Recht illegalen - Ausbau der Siedlungen im Westjordanland mit tausenden Wohnungen voranzutreiben. Und Polizeiminister Itamar Ben-Gvir rief bei einem Auftritt in der selbst nach israelischem Recht illegalen Siedlung Eviatar dazu auf, die Hügel im Westjordanland zu besetzen.

    Wir müssen das Land Israel besiedeln. Gleichzeitig müssen wir eine militärische Kampagne starten, Gebäude in die Luft sprengen und Terroristen töten: Nicht einen oder zwei, sondern Dutzende, Hundert oder, wenn nötig, Tausende von ihnen.

    Itamar Ben-Gvir, Polizeiminister

    Seit Tagen verstärkt das israelische Militär massiv seine Präsenz im Westjordanland. Die heute gestartete Operation "Heim und Garten" ist offenbar die seit längerem erwartete Großoperation dort. An die 1.000 Soldaten sollen sich im Einsatz befinden, wieder sind "Apache"-Kampfhubschrauber und bewaffnete Drohnen im Einsatz, die Bodenziele unter Beschuss nehmen. Es ist die größte Militäroperation der Israelis im Westjordanland seit dem Ende der zweiten Intifada 2005. Doch selbst in Israel glauben viele Beobachter, dass der Effekt nur von kurzer Dauer sein wird.

    Angst vor einer dritten Intifada

    Eines ist jedenfalls klar: Der Ansatz eines Itamar Ben-Gvir funktioniert schlicht nicht. Mehr Gewalt auf der einen Seite führt nicht zu weniger Gewalt auf der anderen. Was umgekehrt natürlich genauso für Terrororganisationen wie Hamas und Co gilt.
    Die eskalierende Gewalt sorgt jeden Tag nur für mehr verwundete Seelen, denen der Hass als einzig mögliche Option erscheint. In Israel, aber auch im besetzten Westjordanland geht die Angst vor einer dritten Intifada um. Wenn niemand eingreift, ist die Frage nicht, ob sie kommt. Sondern nur: Wann?

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