Kindergrundsicherung: "Schande, dass Ampel streitet"

    Interview

    Kindergrundsicherung:"Schande, dass Ampel-Koalition streitet"

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    Viele sozial benachteiligte Kinder werden nicht satt, sagt Wolfgang Büscher von der Arche. Eine Schande sei es, dass die Koalition noch über die Kindergrundsicherung streite.

    Kind isst trockene Nudeln
    Mindestens 20 Prozent der Kinder wachsen in Haushalten unter der Armutsgrenze auf. Die Kindergrundsicherung könnte helfen.
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Die Ampel-Koalition streitet über die Finanzierung der Kindergrundsicherung. Wie empfinden Sie diesen Streit?
    Wolfgang Büscher: Es ist eine Schande, dass in der Koalition über die Kindergrundsicherung gestritten wird. Wir waren geschockt, dass Bundesfinanzminister Christian Lindner nicht einmal die zwölf bis 13 Milliarden Euro in Kinder investieren will. Er will stattdessen Arbeitsplätze schaffen.
    Das ist Blödsinn, weil unsere Kinder erst einmal durch starke Unterstützung, durch Nachhilfeunterricht, ein Besuch im Kino oder im Sportverein, lernen müssen, dass sie Teil der Gesellschaft sind. Ihre zumeist alleinerziehenden Mütter schaffen das nicht. Sie brauchen Hilfe von außen.

    Für mich ist es immer ein Schock, wenn es heißt: Kinder sind die Zukunft. Kinder sind die Gegenwart! Sie leben jetzt und heute und brauchen jetzt und heute unsere Hilfe.

    Wolfgang Büscher, Arche Berlin

    Unsere Kinder brauchen jetzt eine Kindergrundsicherung, sonst werden sie später von Transferleistungen leben müssen.

    ... ist Sprecher von "Die Arche - Christliches Kinder- und Jugendwerk e. V." - es handelt sich um eine bundesweite, offene Einrichtung für Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien, die dort Essen, Freizeitangebote und Hausaufgabenhilfe bekommen.

    ZDFheute: Die FDP argumentiert, dass durch die Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderzuschlags bereits gut sieben Milliarden Euro mehr zur Verfügung gestellt worden sind. Warum reicht Ihnen das nicht?
    Büscher: Wir haben sehr viele schlecht ausgestattete Schulen. Jugendliche sagen mir, sie haben kein Bock mehr hinzugehen, weil die Gebäude marode sind, weil die Lehrerkräfte ständig krank sind. Wir wollen, dass die Hälfte einer Kindergrundsicherung, also 300 Euro, in die Schulen und Kitas direkt fließt. Zum Beispiel in eine vernünftige Sprachförderung.
    ZDFheute: Also wird insgesamt das Geld schlecht verteilt?
    Büscher: Was wir momentan in unseren Arche-Einrichtungen merken: Die Kinder sind trotz der bisherigen Förderung verloren. Sie brauchen die Kindergrundsicherung, um zu überleben. Zu uns kommen bundesweit täglich bis zu 8.000 Kinder in unsere rund 30 Einrichtungen.

    Kinder haben nicht genügend zu essen. Ihre Mütter sagen uns, dass sie auf das Mittagessen verzichten, um abends genug für ihre Kinder zu haben. Das kann doch nicht sein.

    Wolfgang Büscher, Arche

    Den Familien fehlt es also an allen Ecken und Kanten. Hinzukommt, dass viele Eltern die Fördermöglichkeiten gar nicht kennen.
    Bayern, München: Die Schatten von zwei Erwachsenen und einem Kind fallen in den Morgenstunden auf den Asphalt.
    Die Kindergrundsicherung ist ein im Koalitionsvertrag vereinbartes Projekt, aber sorgt für Diskussionen in der Ampel-Koalition.04.04.2023 | 3:24 min
    ZDFheute: Das ist auch ein Argument von FDP und SPD: Leistungen wie der Kinderzuschlag werden nicht von allen Berechtigten in Anspruch genommen, weil sie zu bürokratisch sind.
    Büscher: Wenn wir eine Kindergrundsicherung hätten, könnten wir auf alle anderen Töpfe verzichten. Viele wissen gar nicht, welche Hilfen es gibt. Und wenn sie es wissen, scheitern sie an den Formularen. Ich habe es selbst ausprobiert und bin ohne Hilfe nicht damit klargekommen. Das kann und darf nicht sein.
    Deswegen wollen wir: 300 Euro an Kita und Schule, damit die Kinder dort gezielt gefördert werden. 300 Euro auf das Konto der Kinder. Damit Kinder nicht mehr davon abhängig sind, ob ihre Eltern in der Lage sind, die richtigen Formulare und Anträge auszufüllen.
    SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken
    "Das ist ein Zustand, der für unser reiches Land eine Schande ist und den wir überwinden müssen", so SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken.04.04.2023 | 5:30 min
    ZDFheute: Seit Jahren versucht die Politik, das Armutsproblem zu lösen. Und schafft es offensichtlich nicht. Warum werden Kinder so wenig beachtet?
    Büscher: Ich bin seit 20 Jahren Sprecher der Arche. Ich hätte mir die heutige Situation am Anfang nicht vorstellen können. Wir haben Anfragen von einer Schule in Hamburg, ob wir für 100 Jugendliche ein kostenloses Frühstücksbuffet liefern können, weil sie alle morgens mit leerem Magen kommen. Spätestens ab 10 Uhr können sie sich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren, werden unruhig und teilweise gewalttätig.
    Also: Die Situation ist so schlimm wie nie, und die Archen so voll wie nie. Und wir werden diese Kinder alle verlieren, wenn wir ihnen nicht jetzt und heute helfen. Eine Kindergrundsicherung ab 2025 hilft da wenig. Wir bräuchten sie schon heute.

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    ZDFheute: Warum ist die Situation jetzt so schlimm?
    Büscher: Sie verschlechtert sich seit 2015, als viele Kinder aus den arabischen Ländern zu uns kamen. Dann kam als Nächstes die Corona-Krise. Die Kinder waren plötzlich zuhause und haben nicht mehr in der Schule gegessen. Es gab große finanzielle Probleme, auch Gewaltprobleme. Und jetzt sind es die Folgen des Ukraine-Kriegs.
    Vor sechs Monaten hatten wir in Berlin-Hellersdorf bei der Lebensmittelausgabe 13 Familien. Beim nächsten Mal waren es mehr als 100, dann 600 und jetzt um die 1000 Familien, die um Lebensmittel anfragen.

    Wir haben jeden Tag in jeder Arche massenhaft Anfragen, weil Menschen ihre Familien nicht mehr satt bekommen.

    Wolfgang Büscher, Arche

    Wir haben den Eindruck, dass immer mehr Kinder aus ganz normalen Familien kommen, wo die Eltern selbständig oder angestellt sind. Einfach, weil die Grundnahrungsmittel so teuer geworden sind. Wenn man diesen Kindern in die Augen schaut, dann weiß man, wie ihre Situation zuhause ist.
    ZDFheute: Haben Sie noch das Zutrauen, dass die Politik diese Probleme löst?
    Büscher: Manchmal habe ich so ein bisschen die Hoffnung verloren. Ich bin zumindest glücklich, dass das Thema in der Öffentlichkeit präsent ist. Dass Teile der Politik sich damit so schwertun, kann ich nicht verstehen. Es ist sicher richtig, dass Fachkräfte aus dem Ausland geholt werden. Aber wenn eine Million Menschen kommen und eine Million Jugendliche später mit Transferleistungen in ihren Wohnungen sitzen, dann kann doch etwas nicht stimmen.
    Das Interview führte Kristina Hofmann.

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