Expertin: Ukraine erst nach Kriegsende "schnell in die Nato"

    Interview

    Historikerin Mary Sarotte:Ukraine nach Kriegsende "schnell in die Nato"

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    Die Nato-Außenminister diskutieren in Oslo über die Ukraine: Was kann die Allianz dem Land bieten? Keine Mitgliedschaft, solange dort Krieg herrscht, sagt Historikerin Sarotte.

    NATO-Außenminister in Oslo
    Wie wird die Nato künftig mit der Ukraine umgehen? Das soll ein Außenministertreffen in Oslo klären - welche konkrete Perspektive kann das militärische Bündnis dem Land bieten?01.06.2023 | 2:17 min
    Wenn sich jemand mit den Beziehungen zwischen der Nato und Russland auskennt, dann Mary Sarotte. Die Harvard-Historikerin hat die Geschichte der Nato-Osterweiterung nach dem Ende des Kalten Kriegs zu ihrem Forschungsthema gemacht. Ihr Buch dazu unter dem Titel "Not One Inch" - das im September auf Deutsch erscheint - wurde schnell zu einem Standardwerk.
    ZDFheute: Frau Prof. Sarotte, ist es denn überhaupt realistisch, dass die Ukraine in absehbarer Zeit der Nato beitritt?
    Mary Sarotte: Die Frage ist natürlich: Was heißt "in absehbarer Zeit"? Nach dem Ende der Kampfhandlungen? Dann vielleicht ja. Solange der Krieg noch läuft, nicht. Denn dann wären die jetzigen Nato-Mitglieder sofort im Krieg mit Russland. Also: Über einen Beitritt werden wir erst nach Ende der Kampfhandlungen reden. Das Problem ist nur: Keiner weiß, wann das sein wird.

    Mary Sarotte
    Quelle: David Elmes/Minda de Gunzburg Center for European Studies/Harvard University

    ... hat den Henry-R.-Kravis-Lehrstuhl für Geschichte an der Johns Hopkins University inne und gehört dem Center for European Studies an der Harvard University und dem Council on Foreign Relations an. Ihr Spezialgebiet ist die Geschichte internationaler Beziehungen. Die Historikerin promovierte an der Yale University und veröffentlichte mehrere Fachbücher.

    ZDFheute: Was könnte die Nato denn bis dahin der Ukraine anbieten?
    Sarotte: Man sollte nicht unterschätzen, was die Ukraine schon jetzt an Hilfe von der Nato beziehungsweise von Nato-Staaten bilateral bekommt. Ich glaube, diese Hilfe muss so weitergehen.
    Man kann schlicht nicht sagen: Jetzt haben wir der Ukraine genug geliefert - jetzt reicht es. Nein: Die Ukraine wird fortdauernd Material, Munition und vieles andere brauchen. Also eine Fortsetzung dieser Unterstützung, das wäre schon wichtig - und das ist überhaupt nicht wenig.
    ZDFheute: Viele sprechen darüber hinaus von Sicherheitsgarantien als einem möglichen Zwischenschritt auf dem Weg zur Nato-Mitgliedschaft - also Garantien, die einzelne Nato-Staaten gegenüber der Ukraine aussprechen.
    Sarotte: Ja, im Prinzip wären Garantien stark. Aber Garantien hängen mit Grenzen zusammen. Man muss wissen, was man garantiert.

    Und tragischerweise hat die Ukraine heute keine feste Grenze mehr, etwa im Donbass.

    Mary Sarotte

    Und solange die Nato nicht weiß, welches Territorium sie garantiert, kann sie auch keine ernsthafte Garantie aussprechen.
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    ZDFheute: Das heißt: Wladimir Putin hält den Schlüssel in der Hand? Solange er die Kämpfe auch nur auf kleiner Flamme andauern lässt, solange wird es weder Garantien noch einen Nato-Beitritt geben?
    Sarotte: Ja, das ist natürlich ein Problem. Denn wir können Putin kein Vetorecht geben bezüglich einer Erweiterung der Nato. Aber es gibt auch kein alles oder nichts bei dieser Nato-Mitgliedschaft. Wir müssen die Ukraine auf alle möglichen Arten, anders unterstützen. Wir müssen der Ukraine helfen, den Krieg nicht nur zu beenden, sondern auch zu gewinnen.
    ZDFheute: Nun hat Putin ja die bisherige Osterweiterung der Nato stets als einen vermeintlichen Grund für diesen Krieg genannt - weil die Nato damit gegen Absprachen verstoßen habe. Eine weitere Annäherung der Ukraine wird er erst recht als Bedrohung bewerten. Zurecht?
    Sarotte: Nun, ich habe mich damit sehr intensiv beschäftigt und alle Quellen studiert. Und ich kann sagen: Was es nach dem Ende des Kalten Kriegs gab, das waren lediglich hypothetische Gespräche über eine Bremse der Nato-Osterweiterung. Diese Bremse aber kam nicht zustande. Im Gegenteil:

    Am Ende stand im Vertrag zur deutschen Einheit vom September 1990 die klare Aussage, dass die Nato sich auch jenseits der ehemaligen Frontlinien des Kriegs erweitern darf. Dieser Vertrag ist von Moskau unterzeichnet und ratifiziert worden.

    Mary Sarotte

    Und Moskau hat auch dafür finanzielle Unterstützung erhalten. Also ist es von daher betrachtet historisch klar: Die Nato durfte und darf sich über diese Frontlinie erweitern.
    Was die Frage der vermeintlichen Bedrohung Russlands betrifft: Es ist schwierig - nach allem, was wir in der Ukraine gesehen haben, von Butscha bis Mariupol - hier von einer Bedrohung Russlands zu sprechen. Wer bedroht wird, das ist allein die Ukraine.
    ZDFheute: In der Nato wird jetzt intensiv diskutiert, mit welcher Formulierung man beim nächsten Gipfel in Vilnius über eine mögliche Mitgliedschaft der Ukraine spricht. Was meinen Sie?
    Sarotte: Natürlich kann man darüber jetzt streiten. Aber ich halte das nicht für zweckmäßig, denn natürlich besteht eine Gefahr: dass uns das von der Hauptaufgabe ablenkt. Denn die Hauptaufgabe ist jetzt eine andere.

    Wir müssen den Ukrainern jetzt praktisch mit allen Mitteln helfen, diesen Krieg zu gewinnen - sodass sie wieder feste Grenzen hat.

    Mary Sarotte

    Und wenn sie die hat, dann, meine ich, sollte sie unbedingt schnell in die Nato aufgenommen werden.
    Das Interview führte Florian Neuhann, Korrespondent im ZDF-Studio Brüssel.
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