Priester über orthodoxe Ostern im Krieg: "Endloser Albtraum"

    Interview

    Orthodoxe Ostern:Russischer Priester: "Ein endloser Albtraum"

    |

    Die russisch-orthodoxe Kirche steht fest an der Seite Putins. Doch einige Priester sprachen sich 2022 offen gegen den Krieg aus. Ein Gespräch über Ostern in Zeiten des Krieges.

    Russland, St. Petersburg: Orthodoxe Gläubige ziehen während der orthodoxen Mitternachtsmesse zu Ostern in St. Petersburg mit Kerzen um eine Kirche.
    Orthodoxe Gläubige ziehen während der Ostermesse mit Kerzen um eine Kirche in in St. Petersburg. Das Bild wurde mit Langzeitbelichtung aufgenommen.
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Sie selbst haben in den 80er Jahren im Afghanistan-Krieg gekämpft. Wie haben Sie den Krieg damals erlebt?
    Jewgenij Gorjatschew: Es war qualvoll. Einige schlimme Erinnerungen holen mich auch heute noch ein, nach mehr als dreißig Jahren. Es war entmenschlichend. Ich war Kommandant einer Panzerhaubitze. Einmal haben wir auf ein Dorf geschossen, ungefähr aus einer Entfernung von 600 bis 800 Metern. Bevor es losging, bemerkte ich, dass sich zwischen den Gebäuden etwas bewegte.

    Es waren Afghanen in bunter Kleidung. Dann gab es eine Salve, und alles verschwand in einer Staubwolke.

    Jewgenij Gorjatschew, Priester

    Abends erzählte ich dem Offizier, was ich sah und fragte ihn: Es sah so aus, als wären noch Zivilisten da gewesen. Schießen wir auf Zivilisten? Seine Antwort war sehr nachdrücklich: 'Beruhige dein Gewissen. Deine Hände stecken ohnehin schon bis zu den Ellbogen in Kinderblut.'

    Das meine ich mit Entmenschlichung. Wenn jeder Befehl und jede Aufgabe ungeachtet aller Umstände erfüllt wird, um jeden Preis.

    Jewgenij Gorjatschew, Priester

    Mit jedem Einsatz wurde ich damals in Afghanistan immer professioneller und leider auch unmenschlicher.
    Das zweite Osterfest im Krieg:
    ZDFheute: Erinnern Sie sich noch an den 24. Februar 2022?
    Gorjatschew: Ja, bis ins kleinste Detail. Ich habe den Tag als großes Unglück, große Katastrophe empfunden. Aber ich hatte auch Hoffnung.

    Damals schien es, als würde sich dieser Schrecken wie ein Albtraum bald wieder verflüchtigen und das Leben in normale Bahnen zurückkehren. Aber wie wir sehen, ist es ein endloser Albtraum.

    Jewgenij Gorjatschew, Priester

    Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, gilt als Unterstützer des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Nach Beginn der Offensive am 24. Februar rief er die orthodoxen Gläubigen auf, sich um die Regierung zu "versammeln".

    Nicht alle orthodoxen Priester in Russland folgen dieser Linie. Etwa 300 Priester und Diakone protestieren wenige Tage später in einem Offenen Brief gegen den Krieg in der Ukraine. Das sind allerdings nur etwa ein Prozent aller orthodoxer Priester in Russland.

    Kyrill, der so wie Putin für den sowjetischen Geheimdienst KGB tätig war, sprach dem Nachbarland nicht nur das Existenzrecht ab, sondern bezeichnete den Krieg auch als einen "metaphysischen Kampf des Guten gegen das Böse". Den in der Ukraine eingesetzten russischen Soldaten versicherte Kyrill, dass ihnen im Fall des Todes alle Sünden vergeben werden.

    Die russisch-orthodoxe Kirche untermauert den Krieg ideologisch. Während auf politischer Ebene die Nato als äußerer Feind bekämpft werden soll, ist es aus religiöser Sicht die Verteidigung gegen die sogenannten "westlichen Werte", etwa gegen die Rechte von LGBTQI+-Personen. Religion dient daher zur ideologischen Abgrenzung vom sogenannten "gottlosen Westen".

    ZDFheute: Wie stark ist die russische Gesellschaft seitdem gespalten?
    Gorjatschew: Die Gesellschaft ist stark gespalten. Die Menschen wollen nicht mehr mit Andersdenkenden reden. Ich denke, dieser Zustand ist inzwischen fast unüberwindbar.

    Ein produktives Gespräch über kontroverse oder schmerzliche Dinge braucht friedliche, sichere Bedingungen. Aber die gibt es im Moment nicht.

    Jewgenij Gorjatschew, Priester

    ZDFheute: Kommen seit Beginn der in Russland sogenannten "militärischen Sonderoperation" in der Ukraine mehr Menschen in die Kirchen? Was erwarten sie, worum bitten sie?
    Gorjatschew: Es scheint, dass die Anzahl der Betenden zugenommen hat. So ist es immer in unruhigen, in instabilen Zeiten.

    Jewgenij Gorjatschew arbeitet als orthodoxer Priester in der Region St. Petersburg. Den Krieg kennt er aus eigener Erfahrung: In den 80er Jahren kämpfte er in Afghanistan und machte traumatische Erfahrungen. Um ihn nicht zu gefährden, können wir hier keine weiteren Details zu seiner Person nennen.

    ZDFheute: Werden Sie selbst den Menschen helfen, die von der Front zurückkehren?
    Gorjatschew: Natürlich, wenn die Hilfe, um die die ehemaligen Soldaten bitten, irgendwie mit den christlichen Werten in Einklang zu bringen ist.



    ZDFheute: Welche Art Hilfe wird das wohl sein?
    Gorjatschew: Ich denke, wie ich sie seinerzeit gebraucht habe: Unterstützung, Trost und einen Beweis für die Barmherzigkeit des Herrn.

    Ukraine in Bachmut unter Druck
    :So will Russland die Gegenoffensive abwehren

    Während Russland in Bachmut unerbittlichen Druck macht, bereitet der Kreml die Abwehr der ukrainischen Gegenoffensive vor. Auch auf der Krim trifft Moskau dazu Vorbereitungen.
    von Christian Mölling, András Rácz
    Ukraine, Bachmut: Ein ukrainischer Soldat steht neben einer deutschen Panzerhaubitze 2000, ein selbstfahrendes gepanzertes Artilleriegeschütz, in seiner Stellung an der Frontlinie.
    ZDFheute: Wie kann man Ostern feiern, wenn Menschen getötet werden?
    Gorjatschew: Christus ist doch nicht verschwunden. Sein Leben, seine Leiden und sein Tod, seine Auferstehung werden nicht durch fremde Sünden entwertet. Er hat niemanden im Stich gelassen oder verraten. In dem Grauen, das sich auf unserem Planeten abspielt, ist seine Wahrheit immer noch genau die gleiche: Christus ist auferstanden.

    Ich denke, für die Menschen, die durch Kugeln und Geschosse getötet werden könnten, sind gerade diese Worte und das, wofür sie stehen, Rettung und Trost.

    Jewgenij Gorjatschew, Priester

    ZDFheute: Orthodoxe Christen sitzen heute in Schützengräben und schießen aufeinander. Beide Seiten sind der Meinung, dass sie im Recht sind. Feiern sie ein und dasselbe Ostern?
    Gorjatschew: Ist denn Gott in den Schützengräben? Sicher. Wer würde es ihm verbieten? Eine andere Sache ist, dass die persönlichen religiösen Gefühle der kämpfenden Menschen falsch sein können. In der Bibel heißt es: 'Es kommt aber die Zeit, dass, wer euch tötet, meinen wird, er tue Gott einen Dienst'.
    Zum Glück ändern sich die Menschen. Wenn sie nicht im Gefecht umkommen, werden sie genug Zeit haben, um zu begreifen, was sie getan haben. Und was sie in ihrem Leben noch werden können. Mögen sie nur nicht ums Leben kommen.
    Das Interview wurde im ZDF-Studio Moskau geführt.
    Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:

    Russland greift die Ukraine an
    :Aktuelles zum Krieg in der Ukraine

    Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.
    Patriot-System
    Liveblog
    Thema

    Aktuelle Nachrichten zur Ukraine