Was darf man eigentlich noch sagen? Terra-X-Kolumne

    Kolumne

    Terra X - die Wissens-Kolumne:Was darf man eigentlich noch sagen?

    von Henning Lobin
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    Ständig erregt sich jemand darüber, wie etwas gesagt wurde. Sind wir heute zu empfindlich? Auch früher gab es Einschränkungen, es waren nur andere als heute.


    Wir leben in einer seltsamen Zeit. Ständig regt sich jemand darüber auf, dass etwas so und so gesagt oder eben nicht gesagt wurde. Ob nun unsensibler Sprachgebrauch gegenüber Frauen, kontaminierte Ausdrücke der neuen Rechten, eine für falsch befundene Anrede, politische Slogans, die allergische Reaktionen auslösen - viele Menschen sind gestresst, wenn es darum geht, sprachlich nicht anzuecken. Sind wir alle zu empfindlich geworden? War das nicht früher anders?

    In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.

    Es stimmt schon, früher wurden solche Fragen kaum diskutiert. Das Verhältnis der Geschlechter zueinander war noch in den 1960er-Jahren gesellschaftlich (zulasten der Frauen) klar definiert, rechte Umtriebe weniger sichtbar, die ganze Gesellschaft als homogener wahrgenommen und die krisenbedingten Auseinandersetzungen weniger zahlreich - wenn auch im Kalten Krieg ebenfalls hochgefährlich. Doch auch früher gab es heftigen Streit, dessen sprachliche Erscheinungen nicht weniger aufgeregt wahrgenommen wurden.

    Drastische Entgleisungen gab es auch früher

    Besonders Nazi-Vergleiche pflastern die politische Auseinandersetzung auch in der Bonner Republik, etwa die Aussage von Oskar Lafontaine im Jahr 1982, dass man mit den Tugenden, die Helmut Schmidt für seine Politik geltend mache, auch "ein KZ betreiben könne". Und die Slogans, die heute bei Pro-Palästina-Demos gerufen werden, sind zwar alarmierend, erreichen jedoch nicht die extremen Ausmaße dessen, was in den 70er-Jahren auf der Straße nach den Mordtaten der Rote Armee Fraktion zu Franz-Josef Strauß zu hören war: "Buback, Ponto, Schleyer - der nächste ist ein Bayer".
    Heute gibt es aber einen großen Unterschied. Es stehen mehr Stühle am Tisch der gesellschaftlichen Teilhabe, wie es der Soziologe Aladin El-Mafaalani ausdrückt, und die, die auf diesen Stühlen sitzen, wollen mitreden beim Tischgespräch. Auch früher gab es an diesem Tisch natürlich Beschränkungen dessen, was man sagen durfte und was nicht.
    Bunte Spielfiguren vor dem Schriftzug Communitiy
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    Beleidigungen waren schon immer verpönt, dazu aber auch ehrverletzende Äußerungen, abfällige Bemerkungen über staatliche oder kirchliche Würdenträger (ganz früher die Majestätsbeleidigung), Blasphemie natürlich, Flüche. Eine abfällige Bemerkung auf Kosten von Frauen, Homosexuellen oder anderen früher "unsichtbaren" gesellschaftlichen Gruppen ging jedoch immer und fiel in die Kategorie des Herrenwitzes.

    Früher "unsichtbare" Gruppen reden heute mit

    Heute kommt nun das hinzu, was sich mit der Sichtbarwerdung all der Gruppen, die nun mit am Tisch sitzen, verbindet: die geeignete Anrede ihrer Mitglieder, möglichst die Rücksichtnahme auf deren Erfahrungen und Gefühle, die Unterlassung von Klischee-Aussagen - kurz: all das, was man als sprachliche Höflichkeit im zwischenmenschlichen Umgang bezeichnen kann.
    Diese Veränderungen werden heute vielfach noch als neu wahrgenommen, erfordern in der aktiven Kommunikation gewisse Kenntnisse und Erfahrungen und verkomplizieren dadurch erst einmal das sprachliche Miteinander.
    Fotocollage: Ein Männer- und ein Frauenkopf getrennt durch einen Papieriss, links auf einer Wand als Graffiti die Symbole für männlich und weiblcih sowie ein Genderstern.
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    Es handelt sich aber auch um das Ergebnis eines Demokratisierungsprozesses, den wir seit Jahrzehnten durchlaufen. Konnte man in der bürgerlichen Mittelschicht noch Anfang des 20. Jahrhunderts öffentlich über den "Pöbel" der Unterschicht herziehen, gehen wir in dieser Hinsicht heute sprachlich viel gesitteter miteinander um.

    Wie dürfen, wie sollen wir reden?

    Haben wir aber nicht trotzdem ein Recht darauf, zu sagen, was wir wollen? Selbstverständlich, denn die Meinungsfreiheit wird durch das Grundgesetz garantiert. Eingeschränkt wird sie nur durch das Strafrecht, durch das beispielsweise Beleidigung, üble Nachrede oder Verleumdung sanktioniert werden können.
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    Unterhalb der Ebene des Strafrechts folgen wir Regeln, die durch gesellschaftliche Werte und Normen vorgegeben werden. Diese kann man nirgends nachlesen, sondern sie werden im Gebrauch erlernt und im Austausch mit anderen ständig angepasst.
    Vielleicht ist alles aber auch ganz einfach: So wie man selbst nicht möchte, dass mit einem gesprochen wird, sollte man auch nicht mit anderen sprechen, nur weil man die Freiheit dazu hat. Und dabei auch einmal von sich selbst abzusehen und sich in den anderen hineinzuversetzen, kann ebenfalls nicht schaden.

    ... ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim, Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität und Mitglied des Rats für deutsche Rechtschreibung. Über die Sprache kann er immer wieder staunen, aber auch darüber, wofür sie alles herhalten muss.

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