Zahlen, Daten, Fakten zum Thema der "maybrit illner"-Sendung am 19. Mai 2022.
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Russland hat nach eigenen Angaben hunderte weitere ukrainische Soldaten aus dem belagerten Asow-Stahlwerk in Mariupol gefangengenommen. Insgesamt hätten sich seit Anfang der Woche mehr als 1.700 Kämpfer ergeben, darunter 80 Verwundete. Damit habe mehr als die Hälfte der ukrainischen Kämpfer das Stahlwerk verlassen, sagte der Chef der prorussischen Separatisten in der Region Donezk, Denis Puschilin, am Donnerstag im russischen Staatsfernsehen.
Wie viele Kämpfer sich aktuell noch auf dem weitläufigen Werksgelände aufhalten, ist unklar. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge sollen es vor Beginn der Evakuierungsmission zwischen 1.000 und 2.500 gewesen sein. Die letzten Zivilisten waren bereits vor rund eineinhalb Wochen mit internationaler Hilfe in Sicherheit gebracht worden. Kiew hofft auf einen Gefangenenaustausch der Soldaten aus Mariupol mit Russland. Russische Behörden haben aber mehrfach betont, dass zumindest ein Teil der Gefangenen nicht als Soldaten, sondern als Neonazi-Kämpfer angesehen werde.
Das umkämpfte Asow-Stahlwerk gilt als letzte Bastion der ukrainischen Verteidiger Mariupols gegen die russischen Truppen. Die Großstadt mit ihrem Hafen am Asowschen Meer ist strategisch wichtig. Sie liegt rund 70 Kilometer westlich der russischen Grenze. Mit ihrer Einnahme hätte Russland die Kontrolle der ukrainischen Küste am Asowschen Meer übernommen und damit eine Landbrücke zwischen dem russischen Festland und der 2014 annektierten Halbinsel Krim. Ein Ende der Belagerung würde Beobachtern zufolge der russischen Armee auch die Möglichkeit geben, zusätzliche Truppen im Donbass einzusetzen.
Die russischen Streitkräfte hätten laut Erkenntnissen des britischen Geheimdienstes erhebliche Probleme beim Nachschub und der Truppenverstärkung. So müsse Russland viele Hilfstruppen einsetzen, um den ukrainischen Widerstand zu brechen, darunter Tausende Kämpfer aus der autonomen Teilrepublik Tschetschenien. „Der Kampfeinsatz so unterschiedlichen Personals zeigt die erheblichen Ressourcenprobleme Russlands in der Ukraine und trägt wahrscheinlich zu einem uneinheitlichen Kommando bei, das die russischen Operationen weiterhin behindert“, heißt es aus dem Verteidigungsministerium in London. Dies habe zu Frust und hohen Verlusten der russischen Streitkräfte geführt.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach von „beeindruckenden Verlusten“ der russischen Armee beim Einmarsch in die Ukraine. Dies stehe unter dem Vorbehalt, dass die entsprechenden Angaben stimmten, sagte Borrell nach einem Treffen der EU-Verteidigungsminister in Brüssel. „Wenn es stimmt, dass Russland seit Beginn des Krieges 15 Prozent seiner Truppen verloren hat, ist das ein Weltrekord bei Verlusten für eine Armee bei einem Einmarsch in ein Land.“ Wie lange Russland solche Verluste verkraften könne, darüber wolle er nicht spekulieren, so Borrell.
Über die Verluste der russischen Armee gibt es verschiedene Angaben. Überprüfen lassen sie sich nur schwer. Der ukrainische Generalstab der Streitkräfte gibt die Zahl der ausgeschalteten russischen Soldaten aktuell mit mehr als 27.000 an. Das entspräche Verlusten von knapp 15 Prozent, sollte Russland 200.000 Soldaten für den Angriffskrieg zusammengezogen haben. Schätzungen der westlichen Geheimdienste gehen von 150.000 bis 200.000 aus. Russland nannte in der Vergangenheit stets bedeutend niedrigere Zahlen, was die eigenen Verluste angeht.
In der Westukraine an der Grenze zu Polen hat der Bürgermeister von Lwiw (Lemberg), Andrij Sadowyj, einen ständigen Beschuss mit russischen Raketen beklagt. In der Stadt gebe es sehr viele internationale Organisationen, die dadurch verunsichert werden sollten, sagte Sadowyj im ukrainischen Fernsehen. Russland habe es nicht nur auf die militärische Infrastruktur abgesehen, sondern wolle durch den Beschuss permanente Anspannung auslösen. Schäden in Lwiw selbst habe es aber nicht gegeben. Die Menschen hätten aber praktisch die ganze Nacht zum Dienstag in Luftschutzbunkern verbringen müssen.
Ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Donnerstag, sein Land werde keinen Waffenstillstand akzeptieren, solange die russischen Streitkräfte nicht vollständig aus der Ukraine abgezogen seien. „Bieten Sie uns keinen Waffenstillstand an – das ist ohne einen vollständigen Abzug der russischen Truppen unmöglich“, schrieb Mychajlo Podoljak auf Twitter. In Anspielung auf ein Friedensabkommen für die Ostukraine aus dem Jahr 2015, das von Frankreich und Deutschland vermittelt und in der belarussischen Hauptstadt Minsk unterzeichnet wurde, schrieb Podoljak: „Die Ukraine hat kein Interesse an einem neuen „Minsk“ und der Wiederaufnahme des Krieges in einigen Jahren.“
In einem Interview mit der Zeitung „Die Welt“ hat EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni vor übertriebenen Hoffnungen auf einen schnellen Wiederaufbau der zerstörten Gebiete in der Ukraine gewarnt. Zusammen mit der Regierung in Kiew sei eine erste Schätzung erstellt worden, wie umfangreich und teuer der Wiederaufbau werden könnte. Gentiloni sagte: „Der Wiederaufbau der Ukraine wird die Aufgabe einer Generation werden.“
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Mit teils erhobenen Armen stehen Männer in Militärkleidung vor ihren Gegnern. Andere liegen verletzt auf Tragen, haben Verbände an Armen und Beinen, werden in Busse zum Abtransport gebracht. Im Hintergrund ist ein Industriegelände zu sehen. Das Video – veröffentlicht vom russischen Verteidigungsministerium – soll einige der ukrainischen Kämpfer zeigen, die sich nach wochenlanger Belagerung des Stahlwerks von Mariupol ergeben haben.
Russische Truppen hatten die Hafenstadt bereits kurz nach Kriegsbeginn belagert und innerhalb einiger Wochen fast komplett erobert. Nach Angriffen auf ein als Luftschutzbunker dienendes Theater und das Gebäude einer Geburtsklinik wurde die mittlerweile völlig zerstörte Stadt international zum Sinnbild für die Grausamkeit des russischen Angriffskriegs. Zugleich wurden die rund 1.000 ukrainischen Soldaten, die Schätzungen zufolge weiter in den Bunkeranlagen von Azovstal ausharrten, zu Mariupols letzten Verteidigern. Die ukrainischen Truppen, die rund 100 Kilometer weit entfernt sind, hatten keine Möglichkeit, sie zu befreien.
Die Ursprünge des gigantischen Industriekomplexes am Ufer des Asowschen Meeres reichen in die 1930er Jahre zurück, als die sowjetischen Behörden den Bau eines Eisenwerks in der Hafenstadt Mariupol anordneten. Bis zum Beginn des russischen Angriffskrieges konnte das Werk laut Eigentümer Metinvest 5,7 Millionen Tonnen Eisen und 6,2 Millionen Tonnen Stahl pro Jahr produzieren. Damit gehört es zu den größten Stahlwerken Europas.
Das rund elf Quadratkilometer große Areal besteht aus einem Gewirr von Eisenbahnschienen, Lagerhäusern, Kohleöfen, Fabriken, Schornsteinen und Tunneln, das als ideal für einen Guerillakampf gilt. „Es ist eine Stadt in der Stadt“, sagte kürzlich Eduard Basurin, Vertreter der prorussischen Separatisten in der Region Donezk. „Es gibt mehrere unterirdische Ebenen noch aus der Sowjetzeit, die man nicht von oben bombardieren kann. Du musst runter gehen, um sie zu säubern.“ Stattdessen attackierten russische Flugzeuge den Komplex mit Bomben, um den Widerstand der dort verschanzten ukrainischen Soldaten zu brechen.
Was nun mit den Kriegsgefangenen passiert, bleibt zunächst unklar. Kiew setzt auf einen Austausch gegen russische Kriegsgefangene. „Ukrainische Helden braucht die Ukraine lebendig“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Worte wie „Kapitulation“ und „Gefangenschaft“ vermeidet er. „Dank der Verteidiger von Mariupol haben wir kritisch wichtige Zeit für die Formierung von Reserven, Kräfteumgruppierung und den Erhalt von Hilfe von unseren Partnern erhalten“, betont Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar. Die Verteidiger von Azovstal hätten bis zu 20.000 gegnerische Soldaten gebunden, behauptet der ukrainische Generalstab.
In der Ukraine sind die Kämpfer von Mariupol längst zu Volkshelden geworden. Die ukrainische Band Kalush Orchestra beendete ihren Sieger-Auftritt beim Eurovision Song Contest am vergangenen Wochenende mit den Worten „Help Azovstal“ – „Helft Azovstal“. „Azovstal ist eine Festung, ein Symbol, eine Bastion“, heißt es auch im Staatsfernsehen. Dass ein Großteil der letzten Mariupoler Verteidiger dem Nationalgarde-Regiment „Asow“ angehört, in dem auch Rechtsradikale kämpfen, ist für viele Ukrainer in dieser Situation völlig zweitrangig. Für sie sind die Kämpfer zum Sinnbild geworden für den unerwartet starken ukrainischen Widerstand gegen die russischen Besatzer.
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Für die einen sind sie Neonazis, für die anderen ukrainische Nationalhelden: Die Kämpfer des berüchtigten Asow-Regiments sind ins Zentrum des Informationskrieges zwischen Moskau und Kiew gerückt. Während Russland die Kampftruppe als „faschistisch“ brandmarkt, werden die Mitglieder des Regiments seit Beginn der russischen Ukraine-Invasion von vielen Ukrainern gefeiert.
In Moskau wird „Asow“ immer wieder als Rechtfertigung für den Krieg gegen die Ukraine herangezogen, der unter anderem die angebliche „Entnazifizierung“ des Nachbarlands zum Ziel haben soll. Und so spricht sich der russische Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin mit genau diesem Argument gegen den von der Ukraine angestrebten Austausch der Azovstal-Kämpfer aus. „Nazi-Verbrecher unterliegen keinem Austausch. Das sind Kriegsverbrecher, und wir müssen alles dafür tun, sie vor Gericht zu bringen“, wettert Wolodin.
Die ideologische Einordnung des Asow-Regiments ist umstritten. Kurz nach Beginn des Ostukraine-Konflikts 2014 hatte sich „Asow“ als Freiwilligenbataillon gegründet. Sein Stützpunkt: Mariupol am Asowschen Meer. Zu den Gründern gehörte der bekannte ukrainische Rechtsextreme Andrij Bilezkyj. In der Folge sorgten seine Kämpfer mit Neonazi-Symbolen für Aufsehen. Zum Zeitpunkt seiner Gründung habe das Asow-Bataillon einen „rechtsextremen Hintergrund“ gehabt, sagt Andreas Umland vom Stockholm-Zentrum für Osteuropastudien der Nachrichtenagentur AFP. Mittlerweile habe sich das Regiment aber „entideologisiert“ und zu einer normalen Kampfeinheit entwickelt. Viele Rekruten schlössen sich der Einheit nicht mehr aus ideologischen Gründen an, sondern wegen seines Rufs, „besonders hart“ zu kämpfen, sagt Umland.
Inzwischen wurde das Asow-Regiment mit seinen aktuell 2.000 bis 3.000 Kämpfern wie andere paramilitärische Verbände in die ukrainische Nationalgarde integriert. Es befindet sich damit unter dem Kommando des ukrainischen Innenministeriums. Trotzdem bestätigt die Bundesregierung, dass deutsche Rechtsextremisten enge Kontakte zu Asow-Mitgliedern pflegen (Bundestags-Drucksache 19/26359).
Gegenüber der Wochenzeitung „Die Zeit“ erklärt der ukrainische Politikwissenschaftler Anton Schechowzow: „Zu Beginn bestand der Hauptteil des Bataillons aus Aktivisten der rechtsextremistischen Organisation ‚Patriot der Ukraine‘. Sie war eine der sehr rassistischen und antisemitischen Gruppen in der Ukraine. […] Der Rechtsextremismus ist Teil der Asow-Geschichte. Diese historische Verbindung wird nicht vergehen.“
Dass sich die russische Propaganda in hohem Maße auf das Asow-Regiment und seinen angeblich rechtsextremen Charakter konzentriert, hat nach Experten-Angaben mit der kollektiven russischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu tun, die sich damit beschwören lasse. „Die Begriffe 'Nazismus' und 'Faschismus' meinen im russischen Kontext das absolut Böse, mit dem sich nicht verhandeln lässt: Man kann es nur bekämpfen und versuchen, es auszurotten“, sagt der Politikwissenschaftler Sergei Fediunin vom französischen Nationalinstitut für orientalische Sprachen und Gesellschaften.
(Quellen: Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna / DLF)Kontrollieren Neonazis wirklich die Ukraine? - Faktencheck Bildquelle: funk
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Dass Russlands Präsident Wladimir Putin diesen Krieg nicht gewinnen darf, darüber sind sich die meisten Regierungen, die die Ukraine unterstützen, einig. Aber welches Ziel verfolgen sie mit ihrer Unterstützung? Einen Sieg der Ukraine? Und wie sähe so ein „Sieg“ aus? Die prorussischen Separatistenregionen Luhansk und Donezk zurückgewinnen? Die Krim? US-Verteidigungsminister Lloyd Austin formulierte sein Ziel so: "Wir wollen Russland in einem Maße geschwächt sehen, dass es dem Land unmöglich macht, zu tun, was es in der Ukraine mit der Invasion getan hat."
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte am Donnerstag in seiner Regierungserklärung: „Uns alle eint ein Ziel: Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine muss bestehen.“ Im Sender RTL hatte Scholz Anfang der Woche davor gewarnt, dass man darüber nicht hinausgehen solle. "Das wäre angesichts der Tatsache, dass es sich um eine Nuklearmacht handelt, eine ganz falsche Zielsetzung."
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hält eine Niederlage Russlands im Krieg gegen die Ukraine inzwischen für möglich. „Die Ukraine kann diesen Krieg gewinnen“, sagte der Norweger vergangenen Sonntag nach Beratungen der Außenminister der 30 Bündnisstaaten in Berlin.
Ging es zu Beginn der russischen Invasion vor allem darum, dass die Ukraine wenige Tage, dann einige Wochen gegen die russischen Angreifer standhalten sollte, so haben sich nun die Kriegsziele verändert. "Es ist jetzt vor allem das Narrativ der Amerikaner, dass die Russen verlieren müssen und aus der Ukraine vertrieben werden müssen", sagt Stefan Meister, Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), zu Reuters. Auch Außenministerin Annalena Baerbock betonte: "Durch die Sanktionen sorgen wir dafür, dass ein weiteres militärisches Vorgehen in anderen Regionen aus russischer Kraft allein in den nächsten Jahren nicht möglich ist." Die Frage ist, wie lange die Sanktionen dafür angesichts der derzeitigen Rekordeinnahmen Russlands für Öl- und Gasverkäufe bei so einem Ziel eigentlich in Kraft bleiben müssten. Zur Ukraine selbst sagte Baerbock, dass alle russischen Soldaten das Land verlassen müssten – also auch die auf der 2014 annektierten Halbinsel Krim.
Das stößt nicht überall in der Bundesregierung auf Zustimmung. Kanzler Scholz unterscheidet sich erheblich etwa von den Aussagen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem britischen Premierminister Boris Johnson, die von einem "Sieg" der Ukraine sprechen. Das passt zum neuen Selbstbewusstsein auch in Kiew und färbt offensichtlich auf deutsche Politiker ab: Es gehe nicht mehr darum, dass die Ukraine nicht verliere, sondern sie könne den Krieg gewinnen, sagen der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth (SPD), und der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter übereinstimmend.
Dabei ist Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj viel vorsichtiger. "Das Minimum ist, unsere Gebiete mit dem Stand vom 23. Februar wieder zu bekommen", sagte er in einer Video-Schalte beim Thinktank Chatham House mit Blick auf den Start der Invasion am 24. Februar. Das würde etwa die Halbinsel Krim ausklammern.
Deshalb ist meist völlig unklar, was eigentlich gemeint ist, wenn Politiker von "gewinnen" sprechen – und wie realistisch das ist. In Kreisen der Bundesregierung wird es als eher utopisch angesehen, dass die atomare Supermacht Russland am Ende wirklich die Krim zurückgeben könnte, auf der sich der zentrale Stützpunkt der russischen Schwarzmeer-Marine befindet. Auch DGAP-Experte Meister sieht einen vollständigen Sieg der Ukraine nicht als realistisch an. "Es wird auf absehbare Zeit kein Ende des Krieges geben, wenn man die Ziele zu hoch ansetzt", warnt er. Die ukrainische Armee sei trotz der Erfolge eine Blackbox, deren Stärke man im Westen nicht einschätzen könne.
Militärexperten betonen zudem, dass alleine die Rückeroberung der von den russischen Invasoren besetzten Gebiete andere und vor allem sehr viel mehr Waffen aus dem Westen erfordere – und eine neue Debatte, ob man dazu bereit ist. Auch die zivile Hilfe, bei der auf der Ukraine-Geberkonferenz nach polnischen Angaben 6,5 Milliarden Dollar gesammelt wurden, hängt letztlich davon ab, was man erreichen will. Denn humanitäre Hilfe und Finanzspritzen zur Vermeidung eines ukrainischen Staatsbankrotts müssen schnell geleistet werden. Aber klassische Wiederaufbauhilfe ist erst sinnvoll, wenn Russland aufhört, ukrainische Häuser oder Infrastruktur-Anlagen zu zerschießen.
Aber auch auf russischer Seite hat sich die Rhetorik verändert. Als die russischen Angreifer noch auf Kiew zumarschierten, war von einer Entnazifizierung und Entwaffnung der Ukraine die Rede. Dann schob das Verteidigungsministerium die Eroberung des Donbass in den Vordergrund. Auch das Abschneiden der Ukraine vom Schwarzen Meer gilt als mögliches Ziel – obwohl alle westlichen Regierungen betonen, dass man nicht wisse, was Präsident Wladimir Putin wirklich wolle.
(Quellen: Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna / DLF)Bildquelle: reuters
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Die zu Beginn des Kalten Kriegs gegründete NATO hat sich über die Jahrzehnte zum größten Militärbündnis der Welt entwickelt. Und sie wird nun voraussichtlich nochmals deutlich wachsen: Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine beantragten Finnland und Schweden am Mittwoch offiziell den Beitritt zum Nordatlantikpakt.
Die NATO wurde am 4. April 1949 von zehn westeuropäischen Ländern mit den USA und Kanada gegründet, um der Bedrohung durch die Sowjetunion zu begegnen. Sie verpflichten sich zum gegenseitigen Beistand im Falle eines Angriffs, des sogenannten Bündnisfalls. Die Allianz wurde nach und nach in den folgenden Jahren erweitert. Die Bundesrepublik Deutschland trat 1955 der NATO bei. Im gleichen Jahr schließen die UdSSR und die sozialistischen Länder Osteuropas ihr eigenes Militärbündnis, den Warschauer Pakt.
Zwischen 1991 und 1997 bricht die UdSSR zusammen und der Warschauer Pakt löst sich auf. Die NATO unterzeichnet mit ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Pakts eine Partnerschaft für den Frieden. 1999 nimmt die Allianz die ersten osteuropäischen Länder auf: die Tschechische Republik, Ungarn und Polen. Weitere sieben osteuropäische Länder treten 2004 der NATO bei.
Die Ukraine ist kein NATO-Mitglied, weshalb der russische Angriff keinen Bündnisfall ausgelöst hat. NATO-Mitgliedstaaten liefern der Ukraine militärische Ausrüstung. Doch die Allianz entsendet keine Truppen und setzt keine Flugverbotszone durch, um nicht zur Kriegspartei zu werden. Ende März verstärkt die NATO ihre Ostflanke mit neuen Gefechtsverbänden in Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei.
Am 18. Mai beantragen Finnland und Schweden aus Angst, ebenfalls von Russland angegriffen zu werden, den Beitritt zur NATO. Für die beiden Länder ist die Beitrittskandidatur nach jahrzehntelanger Bündnisneutralität eine Zäsur. Und auch für die NATO beginnt eine neue Phase, denn mit dem Beitritt wird sich die Grenze des Bündnisgebiets mit Russland in etwa verdoppeln. Allein Finnland hat eine rund 1.300 Kilometer lange Grenze zu Russland.
Regierungschefin Sanna Marin wertet einen Beitritt Finnlands zur NATO als Gewinn sowohl für ihr Land als auch für das internationale Bündnis. „Eine Mitgliedschaft in der NATO wird Finnlands Sicherheit verbessern und zugleich auch die Allianz stärken“. Sie unterstrich, dass durch einen gemeinsamen Beitritt mit Schweden die Sicherheit und Stabilität im Baltikum und in ganz Nordeuropa gestärkt werde. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete die Entgegennahme der Beitrittsanträge als “einen guten Tag zu einem kritischen Zeitpunkt für unsere Sicherheit". Die beiden Länder seien bereits die "engsten Partner" des Militärbündnisses, betonte Stoltenberg.
Die NATO hat Finnland und Schweden eine Aufnahme im Schnellverfahren in Aussicht gestellt. Solange Finnland und Schweden den Beitrittsprozess nicht abgeschlossen haben, genießen sie keinen Schutz unter dem Beistandsartikel fünf der NATO. Großbritannien und andere Mitgliedsländer hatten deshalb Sicherheitsgarantien für die nordischen Staaten ausgesprochen. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat "Unterstützung zum gegenseitigen Schutz" zugesagt. Der ehemalige NATO-General a.D. Egon Ramms bezeichnet die Beitrittsanträge im ZDF-„heute journal“ als eine “Zeitenwende für die beiden Länder”. Vor ca. vier, fünf Jahren hätte es seitens Schweden und Finnland noch kein Bestreben nach einer NATO-Mitgliedschaft gegeben. “Die Schweden und die Finnen waren damals stolz auf ihre Neutralität und auf ihre Unabhängigkeit”, ergänzte Ramms.
Die Beitrittsanträge von Schweden und Finnland haben Österreich veranlasst, seine Neutralität erneut zu bekräftigen. Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer sagte: „Für Österreich stellt sich diese Frage nicht.“ Zugleich betonte Nehammer, Österreich sei „vollumfänglich solidarisch“ mit der Ukraine. Laut der Neuen Züricher Zeitung wird nun auch geprüft, ob die Schweiz, die ebenfalls neutral ist, „Partner mit erweiterten Möglichkeiten“ werden könnte.
Wenn ein Land die NATO-Mitgliedschaft beantragt, müssen die 30 Mitgliedstaaten einstimmig eine förmliche Einladung aussprechen, damit die eigentlichen Verhandlungen beginnen können. Da Finnland und Schweden westliche Demokratien sind und schon seit Jahren an NATO-Manövern teilnehmen, rechnet Generalsekretär Stoltenberg mit einem schnellen und unkomplizierten Prozess.
(Quellen: Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna / DLF)Bildquelle: ZDF
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Das Bundeskabinett hat den Anträgen Finnlands und Schwedens für einen NATO-Beitritt zugestimmt, wie Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) auf Twitter mitteilte. "Die liberalen Demokratien rücken näher zusammen und die NATO wird gestärkt", schreibt Buschmann. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) erklärte, die Bundesregierung habe alles für einen schnellen Beitritt vorbereitet." Auch die Regierungschefs der baltischen Staaten haben Finnland und Schweden ihre Unterstützung auf dem Weg zur NATO-Mitgliedschaft versichert. „Wir, die Ministerpräsidenten von Estland, Lettland und Litauen, unterstützen und begrüßen ausdrücklich die historischen Entscheidungen“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung.
Es gibt allerdings nicht nur Befürworter der Anträge. Das NATO-Mitglied Türkei droht mit einem Veto gegen die Norderweiterung. Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft Finnland und Schweden vor, eine zu laxe Haltung gegenüber „Terrororganisationen“ wie der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu haben. Erdogan erwartet von der NATO mehr Verständnis bezüglich der Sicherheit seines Landes. „Die Nato ist ein Sicherheitsbund, eine Sicherheitsorganisation. Insofern können wir nicht Ja dazu sagen, dieses Sicherheitsorgan unsicher zu machen“, erklärte Erdogan.
Wie die Türkei von einem Veto gegen einen NATO-Beitritt von Finnland und Schweden abgehalten werden kann, ist unklar. Nach Angaben von Diplomaten könnten neben Erklärungen der beiden Nordländer zum Kampf gegen den Terrorismus auch Waffengeschäfte eine Rolle spielen. In Brüssel wird vermutet, die Türkei wolle damit vor allem US-Präsident Joe Biden unter Druck setzen, um unter anderem eine schnelle Lieferung von F-16-Kampfjets zu erwirken. Die Hoffnung ist nun, dass Gespräche des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu in New York Bewegung in den Streit bringen könnten. Cavusoglu wollte sich dort unter anderem mit seinem US-Kollegen Antony Blinken treffen. NATO-Generealsekretär Jens Stoltenberg geht nach eigenen Worten davon aus, dass die Probleme mit der Türkei gelöst werden können.
Russland selbst hatte in den vergangenen Wochen mit Blick auf die NATO-Beitrittspläne mit Drohungen reagiert. Kreml-Chef Wladimir Putin sagte am Montag, die NATO-Norderweiterung sei zwar "keine direkte Bedrohung" für Russland. Sein Land werde aber auf eine "Ausweitung der militärischen Infrastruktur" der NATO "zweifellos" reagieren.
(Quellen: Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna / DLF)Bildquelle: Imago
Die Sendung
- Ukraine-Krieg – was will der Westen erreichen?
"maybrit illner" mit dem Thema "Krieg in der Ukraine – was will der Westen erreichen?" vom 19. Mai 2022, um 22:15 Uhr im ZDF.
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