Artensterben - na und?!

Wie stark Ökosysteme und Nahrungsketten miteinander verknüpft sind, wird in den 1960er in China auf fatale Weise deutlich. Im Fokus damals: Der Sperling. 1956 ordnet die Regierung an, alle Sperlinge gnadenlos auszurotten. Denn er frisst einen Teil der Körner von den Feldern und verringert so die Ernteerträge. Nach wenigen Wochen sind die Vögel so gut wie ausgerottet. Dafür verdreifacht sich die Anzahl eines viel schlimmeren Ernteschädlings: der Heuschrecke! Kein Wunder, Heuschrecken sind fester Bestandteil des Speiseplans der Sperlinge. Es kommt zu schlimmen Missernten. China reagiert mit einer zweiten Angriffswelle auf die Natur: Die Bauern erhalten große Mengen Insektizide, um der Heuschreckenplage Herr zu werden. Der aggressive Einsatz von Schutzmitteln wird jahrelang auf den Feldern praktiziert. Die Anzahl der Heuschrecken geht stark zurück. Doch das Gift ist ebenso ein Todesurteil für andere Insekten, die für eine funktionierende Landwirtschaft unentbehrlich sind: die Bienen. Die Folgen für die chinesische Bevölkerung sind verheerend. Ernteausfälle führen zu einer Lebensmittelknappheit, und eine gigantische Landflucht setzt ein. Der großen Hungersnot fallen viele Menschen zum Opfer. Genaue Zahlen gibt es zwar keine, aber Schätzungen gehen von 20 bis 40 Millionen Menschen aus. Und heute? Das Summen ist auch Jahrzehnte in einigen Regionen nahezu verstummt. Dennoch versprechen die Obstbäume Jahr für Jahr überraschenderweise üppige Ernten. Möglich wird das, weil andere Helfer:innen „ausschwärmen“: menschliche Bestäuber:innen, die die Arbeit der Bienen inzwischen übernehmen müssen.

Allein in Deutschland gibt es über 72.000 verschiedene Tier-, Pflanzen- und Pilzarten. Da den Überblick zu behalten, wie es um die einzelnen Arten steht, ist eine enorme Herausforderung. Es bräuchte sehr viel Personal, Zeit und auch Geld, um das zu gewährleisten.
Deswegen haben sich verschiedene Forschungseinrichtungen zusammengeschlossen und das sogenannte AMMOD-Projekt ins Leben gerufen. Es ist eine Art Wetterstation für Artenvielfalt. Ähnlich wie die Klimaforscher, wollen sie mit ihrer Station in der Lage sein, Veränderungen nachzuweisen und Prognosen zu errechnen, wie es um unsere Artenvielfalt steht. Die Station besteht aus künstlichen Augen, Ohren und Nasen, die mithilfe von Künstlicher Intelligenz ihre Umgebung genau im Blick behalten und auswerten, was sie wahrnehmen.
Ziel ist es, so viele Daten wie möglich zu sammeln, damit eine verlässliche Grundlage entsteht, mit der sich der Zustand und die Veränderungen eines Ökosystems genau erkennen lassen. In Zukunft ließen sich anhand der Daten effektivere Naturschutzmaßnahmen erarbeiten – denn nur was wir kennen, können wir auch schützen.

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Welche Folgen das Aussterben einzelner Arten bei uns haben kann, zeigt sich auch an einem Tier, das heute vor allem von Bauunternehmer:innen gefürchtet wird: dem Feldhamster. Früher als Ernteschädling und Pelzlieferant bejagt, heute so selten und geschützt, dass er ganze Bauprojekte stoppen kann. Und das zu Recht, denn der Feldhamster erfüllt eine wichtige Aufgabe. Er ist ein sogenannter Bioturbator. Er gräbt sich durch den Boden – bis zu zwei Meter tief – und bewegt pro Sommer mehr als eine Schubkarre Erde von unten nach oben. So vermischen sich die unterschiedlichen Schichten und die Fruchtbarkeit der Böden erneuert sich stetig – optimale Bedingungen für eine erfolgreiche Landwirtschaft. Doch der Kreislauf ist bedroht, denn heute gibt es in Deutschland nur noch sehr wenige Feldhamster. Trotz strenger Schutzmaßnahmen erholen sich die Bestände nicht. Der Grund: Seine Heimat, die Kulturlandschaft, hat sich drastisch verändert: Riesige Felder, überall Monokulturen, gigantische Erntemaschinen und dazu Dünger und Pflanzenschutzmittel. Das einstige Schlaraffenland ist für ihn zur Wüste geworden. Auf den Feldern gibt es nichts mehr zu hamstern, und die Bestände haben keine Chance, sich von allein zu erholen. Deswegen zählt heute jedes Hamsterleben, und er ist zurecht ein gefürchteter Baustopper.

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Ein Grund, wieso wir in Deutschland so viele Arten verlieren, ist möglicherweise unsere Sicht auf die Natur. Bisher wird sie als Ressource selbstverständlich genutzt und diese Sicht spiegelt sich auch in unseren Gesetzen wider. Die Natur gilt in Deutschland und vielen anderen Industrieländern nämlich als Objekt, über das Menschen verfügen können. Im Gegensatz dazu gelten Menschen und Unternehmen als Rechtssubjekte, die Rechten und Pflichten haben. Vereinfacht bedeutet das: Mesnchen und Unternehmen können auf ihre Rechte bestehen und sie vor Gericht einfordern – die Natur nicht. Um die Natur effektiver zu schützen, wären gleichwertige Rechte für Mensch und Natur ein starker Hebel. Der Erhalt der Natur hätte mehr Gewicht und müsste stärker bei Entscheidungen berücksichtigt werden. Inzwischen gibt es immer mehr Länder, die diesen Weg einschlagen. Zuletzt 2022 in Spanien. Die Salzwasserlagune Mar Menor ist Europas erstes Ökosystem, dass eine Rechtspersönlichkeit erhalten hat – ausgelöst durch ein Volksbegehren von über 600.000 Spanier:innen. Dadurch wurde die Möglichkeit geschaffen, im Namen des Ökosystem auf dessen Unversehrtheit zu bestehen und es so zu schützen. Wenn es so ein Umdenken auch im Rest der Welt geben würde, müssten zukünftig die Interessen der Wirtschaft und die der Natur auf Augenhöhe verhandelt werden.