Langeweile? Bloß nicht! Keine Minute vergeht ohne Ablenkung. Wir sind rund um die Uhr beschäftigt. Das lässt zwar die Zeit vergehen, aber es raubt unsere Kreativität. Erstaunliches über die Langeweile bringt Harald Lesch ans Licht.
Ruhe und Langsamkeit. Die unterschätzte Kraft, die sich darin verbirgt, kann unser Leben in vielen Situationen bereichern. Denn in der scheinbar vergeudeten Zeit steckt großes Potenzial. Erst langsam entschlüsseln Forscher das Wesen der Langeweile. Sie kann uns ins Verderben führen oder uns zu Höchstleistungen anspornen. Wer sie zu nutzen weiß, entwickelt ungeahnte Fähigkeiten.
42 Teilnehmer eines psychologischen Experiments sollen 15 Minuten in einem leeren Raum still sitzen. Sie haben die Wahl zwischen Nichtstun oder sich schmerzhafte Stromschläge zu verpassen. In einer Vorauswahl haben die Teilnehmer bereits erfahren, dass der Stromschlag ungefährlich, aber sehr schmerzhaft ist. Nur solche Personen wurden ausgewählt, die sogar bereit wären, Geld zu zahlen, um keinen weiteren Schlag zu erhalten. Und dennoch… Es dauert nur wenige Minuten, bis sich ein Teilnehmer den ersten Schock verpasst. Das Ergebnis des Versuchs überrascht die Forscher und wird weltweit bekannt. Am Ende haben sich zwei Drittel der Männer und ein Viertel der Frauen entschieden: Sie wählen den Schmerz, um der unerträglichen Langeweile zu entgehen.
Langeweile hat in der Kriegstechnik einen festen Platz. Die Zermürbungstaktik und das Vermeiden von offenen Feldschlachten gehört seit den alten Römern zum Arsenal einiger durchaus erfolgreicher Kriegsherren. Im dritten Jahrhundert vor Christus stand eine riesige Streitmacht aus Karthago kurz vor dem Sieg über Rom. Dann setzt Feldherr Flavius Maximus auf eine neue Taktik: Schluss mit dem Kämpfen. Immer, wenn die Truppen kurz davor sind, aufeinanderzutreffen, ziehen sich die Römer zurück. Hannibal kann weder die gut befestigte Hauptstadt angreifen noch die Legionen auf dem Schlachtfeld stellen. Ein Katz-und-Maus-Spiel quer durchs römische Reich beginnt. Niemand will mit ihm kämpfen. Hannibal bleibt zwar auf römischem Boden ungeschlagen, doch das Schicksal hat sich längst gegen ihn gewendet. In seinem Lager herrschen Frust und Langeweile. Putzdienst statt Heldensagen, ein sinnloses Soldatenleben. Schließlich muss Hannibal nach Karthago zurückkehren. Der Macher wird vom Nichtstun besiegt – und von der Macht der Langeweile.
Das sorgenfreie Leben als Tempelaffe hat seine Schattenseiten: Auch Affen wird es irgendwann zu langweilig. Schuld daran ist der Mensch. In vielen Gegenden Asiens werden Affen als heilig verehrt und mit reichlich Nahrung versorgt. Vom Überlebenskampf befreit, taucht dafür eine andere Frage auf: Was mache ich mit der gewonnenen Zeit? Forscher beobachteten Rhesusaffen in Indien, die eine scheinbar sinnlose Freizeitbeschäftigung für sich entdeckt haben. Sie springen aus großer Höhe in eine Rindertränke. Dabei geht es ihnen nicht darum, ihren Durst zu löschen. Die Affen gehen das Risiko ein, um dem Gefühl der Langeweile zu entkommen. Doch ganz nebenbei entsteht etwas Einzigartiges. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, warum wir Langeweile überhaupt empfinden: Es ist ein Anstoß, etwas Neues auszuprobieren.
Bern im Jahre 1905. Ein junger Angestellter sollte in diesem Jahr die Welt der Wissenschaft auf den Kopf stellen. Seinen eigentlichen Beruf im Patentamt empfand er als nicht sonderlich spannend. Doch sein Gehirn könnte während seiner öden Tätigkeit unbewusst ganz anderen Impulsen gefolgt sein. Der junge Mann hieß Albert Einstein, und 1905 veröffentlichte er seine Relativitätstheorie. Die Physik dazu entwickelte Einstein in fieberhafter Arbeit zu Hause. Doch wäre er genauso erfolgreich gewesen ohne die täglichen, erzwungenen Phasen der Langeweile? In Experimenten gehen Forscher der Natur der Langeweile auf den Grund und entdecken: Wer sich langweilt, ist kreativer! Die Forscher vermuten den Grund im Tagträumernetzwerk, das durch die Langeweile aktiviert wird. Im Tagträumergehirn denken wir über Vergangenheit und Zukunft nach. Verschiedene Varianten der Zukunft werden durchgespielt und mit unseren Erfahrungen kombiniert. Ein ideales Werkzeug für kreative Lösungen. Um ein Problem zu lösen, lohnt es sich also, das Thema einmal ruhen zu lassen. Stattdessen sollte man sich möglichst einfachen Dingen widmen. Das Tagträumernetzwerk übernimmt dann die Arbeit. So kann uns manchmal die Langeweile im Büro den entscheidenden Anstoß geben.
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Immer mehr Menschen, die sich nach Ruhe sehnen, suchen sie im Internet. Hier finden sie die langweiligsten Videos der Welt. Es sind die absurdesten Dinge, die vorgeführt werden: Menschen flüstern in Spezialmikrofone, Fingernägel streichen sanft über Bürstennoppen, Hände kneten farbigen Schleim. Die Filme dauern bis zu zwei Stunden und werden millionenfach geklickt. Nicht nur das visuelle, sondern auch das akustische Erlebnis ist hierbei entscheidend. Es gibt keine musikalischen Töne, dafür aber meist sehr monotone Geräusche. Die körperlich angenehme Reaktion, die sich bis in die Wirbelsäule und andere Gliedmaßen fortsetzen kann, bezeichnen ihre Anhänger als Autonomus Sensory Meridian Response (ASMR), was so viel wie „Kopfhautkribbeln“ bedeutet. Das Ziel der Filme ist es, dieses Kribbeln auszulösen. Nicht alle Menschen sind für diese Reize empfänglich. Für Außenstehende wirkt es wie ein skurriles Ritual. Für die Eingeweihten steht hingegen fest: ASMR-Videos sind ganz und gar nicht langweilig.
Die Welt, in der wir uns bewegen, bestimmt unser Denken. Ob in der hektischen Stadt oder in der ruhigen Natur, alles wirkt. In einem psychologischen Experiment will man diese Wirkung entschlüsseln. Die Teilnehmer sollen zuerst etwas über ihre Wünsche und Ziele im Leben verraten. Wie wichtig ist ihnen Freundschaft im Vergleich zu Unabhängigkeit? Zählt Erfüllung im Beruf mehr als das Geld? Wie steht es mit Kleidung und Aussehen? Die eine Gruppe wird nun in den Wald geschickt. Sie hat keine andere Aufgabe, als die Natur auf sich wirken zu lassen. Die Ruhe des Waldes soll das Tagträumernetzwerk aktivieren. Die andere Gruppe erlebt das Treiben der Großstadt. Das Gehirn muss ständig neue Eindrücke verarbeiten. Im Anschluss werden die Gruppen erneut zum Fragebogen gebeten. Sie erhalten genau die gleichen Fragen wie zu Beginn. Doch die Antworten haben sich verändert. Die Waldgruppe bekennt sich nun viel stärker als die Stadtgruppe zu Freundschaft, Zeit mit der Familie und Wachstum der eigenen Persönlichkeit. Eine Erklärung könnte das Tagträumernetzwerk liefern, das in der reizarmen Waldumgebung aktiviert wurde. Denn nur hier findet unterbewusst eine ständige Selbstreflektion statt. Unsere Ziele erscheinen in einem neuen Licht. Das Tagträumernetzwerk beflügelt unsere Kreativität und hilft, uns selbst zu verstehen. Wer keinen Wald vor der Haustür hat, der probiert es einfach mit ein wenig Langeweile.
Etwa 50 Prozent unserer Wachzeit verbringen wir in einem Zustand des Tagträumens, in dem die Gedanken umherschweifen. Dabei aktiviert das Gehirn ein Netzwerk von Arealen, das als "default mode network" (DMN) oder Ruhezustandsnetzwerk bezeichnet wird – umgangssprachlich „Tagträumernetzwerk“. Diese Areale sind auf verschiedene Stellen im Gehirn verteilt, aber eng miteinander vernetzt. Bei der gezielten Lösung von Aufgaben ist dieses Netzwerk deaktiviert. Treten wir in eine Ruhephase, in ein reizunabhängiges Denken, so wird das Tagträumernetzwerk aktiv. Studien zufolge eine Voraussetzung für mentale Reisen und mehr kreative Ideen.
Professor Harald Lesch über die möglichen Vorteile langweiliger Sitzungen.
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