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"Alles ist an Mobilität angepasst"

Interview mit dem Ethnologen Florian Stammler über nomadische Rentierzüchter

Nenzen-Frau mit Kind im Schnee in Sibirien

Die sibirischen Nenzen leben mit ihren Rentierherden auf Jamal. Ihre traditionelle Lebensweise ist durch die Förderung der Gasvorkommen in ihrem Lebensraum gefährdet. (Aus: Abenteuer Sibirien)

Datum:
30.12.2012
Verfügbarkeit:
Video leider nicht mehr verfügbar

Circa 15.000 Menschen leben im sibirischen Jamal als Nomaden, davon gehören 10.000 zu den Nenzen. Wie die Menschen ihre traditionelle Lebensweise mit moderner Technik und den Anforderungen einer globalisierten Wirtschaft in Einklang bringen, erläutert Florian Stammler vom Arctic Centre der Universität Lappland im folgenden Interview.

ZDF: Was ist das Besondere an der Kultur der Nenzen?

Florian Stammler: Die nenzische Kultur basiert hauptsächlich auf der Rentierzucht und dem Fischfang in nomadischer Lebensweise. Das bedeutet: Alles an dieser Kultur ist an Mobilität angepasst. Sogar die Götter und Geister wandern mit Mensch und Tier mit. Obgleich heute nur noch die Hälfte der Nenzen Westsibiriens als Nomaden leben, ist diese Lebensweise der wichtigste kulturelle Identitätsstifter. Dabei liefert das Rentier so ziemlich alles, was man zum Überleben braucht: Kleidung, Transport, Schutz vor der Kälte im Zelt (Chum), Nahrung, und geistliche Erfüllung. Die Haushalte mit den längsten Wanderrouten sind jährlich bis zu 1200 Kilometer unterwegs - auf Rentierschlitten und zu Fuß. Weltweit kann man vergleichend wohl sagen, dass die nenzische nomadische Kultur zu den erfolgreichsten gehört. Die Anzahl der so lebenden Menschen und Tiere steigt langsam aber kontinuierlich. Heutzutage ist die nenzische Wirtschaft stark in die globale Wirtschaft eingebunden. Beispielsweise wird nenzisches Rentierfleisch seit Jahren zig-tonnenweise nach Deutschland exportiert, wo man es in Supermärkten erwerben kann.

ZDF: Gibt es in der Region noch andere Völker mit ähnlichen Lebensweisen?

Stammler In der Region gibt es noch Rentierzüchter vom Volk der Khanty und Komi. Diese sind etwas weniger mobil, aber wohnen auch noch in Chums. Aber viele von ihnen ziehen im Alter in Dörfer oder kleine Fischerhütten an Flussläufen oder Seen im Wald. Südlicher gibt es noch Khanty, Waldnenzen und Selkupen, die ihre Lebensweise hauptsächlich auf Jagd und Fischfang stützen, aber Rentiere in kleiner Anzahl zur Identitätsstiftung und für Kleidung, Transport und Nahrung halten. Diese Völker leben meist in Holzhütten, von denen sie unter Umständen bis zu sechs an verschiedenen Orten haben, was ihnen saisonale Wanderungen ermöglicht.

Die Rentierherde bestimmt den Rhythmus

ZDF: Was ist für Sie der größte Unterschied zwischen unserem Leben in Deutschland und dem Leben der Nenzen?

Stammler: Zunächst würde ich eindrücklich sagen, dass das Leben in Deutschland nicht moderner ist als das der Nenzen. Wenn man dort mit einem Mobiltelefon auftaucht, das älter als drei Jahre ist, kann man mitunter ausgelacht werden! Und es gibt Strom, Satellitenfernsehen, Satellitentelefone, Hubschrauber, modernste Schneemobile, und so weiter, für die, die das haben wollen und es sich leisten können. Der wichtigste Kontrast ist das andere Verständnis von Zeit. Meine zehnjährige Tochter, die mich im Sommer 2012 begleitet hat, sagte neulich im Auto bei der Hetze zum nächsten Termin: "Warum können wir nicht in der Tundra wohnen. Da gibt es nie Eile, keine Uhren, und keinen Stress." Sie hat es genau begriffen, das ist der wichtigste Unterschied! Ohne Zeitdruck und von außen auferlegte Rhythmen zu leben, ist ein riesiger Unterschied und ein Gesundbrunnen dazu. Das einzig Wichtige im Rhythmus dort ist, dass es der Herde gut geht, wann sie wieder neue Weiden braucht, d.h. das Camp wieder umziehen muss. Ansonsten: kein Wecker, kein fester Tagesplan, kein Essens- und Schlafensrhythmus, der von außen auferlegt ist.

ZDF: Seit wann leben die Nenzen als Nomaden? Warum bildeten sie keine Dörfer oder andere Gemeinschaftsformen?

Stammler: Die Rentierzucht, die die derzeitige nomadische Lebensweise bedingt, hat sich vor circa 350 Jahren entwickelt. Man kann aber die Präsenz von Menschen mit domestizierten Rentieren neuen Ausgrabungen zufolge bis zum 1. Jahrtausend vor Christus zurückverfolgen. Was die Nenzen angeht, so ist deren Art von Rentierzucht mit den großen Herden, die oft die Weiden wechseln müssen, nicht mit einer sesshaften Lebensweise vereinbar. Es sei denn, man investiert Unsummen in Helikopter, die die Leute im Schichtbetrieb hin und her fliegen. So etwas gibt es weiter westlich bei den europäischen Nenzen und auch auf der Kolahalbinsel. Das hat sich aber als sehr schlecht für den Erhalt des spezifischen und einzigartigen kulturellen Erbes erwiesen.

ZDF: Welche Rolle spielen die Rentiere für die Nenzen?

Stammler: Das Rentier ist von universaler, materieller und spiritueller Bedeutung für die nenzische Lebensweise und das Selbstverständnis. Sogar für die Fischer, die keine Rentiere halten. Sie müssen dennoch Felle eintauschen, um sich zu kleiden, Zelte zu bedecken, sich fortzubewegen, und sie brauchen das Fleisch zum Essen. Daher ist die Idee, die Rentierzucht in eine landwirtschaftliche Fleischproduktion zu verwandeln, wie das von europäischen und russischen Behörden vorgeschlagen wird, stark verkürzt. Eine Orientierung auf 'nur Fleisch', ist kontraproduktiv für die Herdenstruktur. Denn in einer nach nenzischem Verständnis vollständigen Herde wird man auch viele trainierte, dressierte Transport-Rentiere finden, erwachsene weibliche Tiere, die die Herde bei der Wanderung  führen. Man hat Renn-Rentiere, die oft weibliche, unfruchtbare Tiere sind, denn die sind die schnellsten Renner. Und natürlich die heiligen Rentiere, die mit den Geistern verbunden sind und den heiligen Schlitten ziehen. Und die zahmen Rentiere, die im oder ums Zelt herum aufwachsen. Von der Fleischproduktionslogik hergesehen sind all diese Tiere unnötig. Aber sie sind nötig zur Erhaltung der Lebensweise, der Mensch-Tier-Umweltbeziehungen und zur Identitätsstiftung - sogar für diejenigen Nenzen, die in Dörfern leben und ihre Identität von der Lebensweise ihrer Ahnen und Verwandten beziehen.

Rohes Fleisch liefert wichtige Vitamine

ZDF: Es gibt ja praktisch kaum Obst und Gemüse vor Ort - wie können die Nenzen Mangelerkrankungen in einer solchen Lage verhindern?

Stammler: Die wichtigsten Nahrungsmittel bei den Nenzen sind rohes Fleisch und roher Fisch. Beides enthält sehr wichtige Vitamine und Spurenelemente. Dies ist auch besonders beim Rentierblut der Fall. Das Tier wird so geschlachtet, dass das Blut im Fleisch bleibt. Zusätzlich wird frisches, meist noch warmes Blut direkt nach der Schlachtung getrunken. Das Rentierblut, das mit Blut getränkte Fleisch und die Leber im Rohzustand enthalten große Mengen an Spurenelementen, Aminosäuren und Vitaminen. Ein typisches Sommer- /Herbst Blut enthält zudem erhöhte Mengen an Phosphor, Calcium, Magnesium, Vitamin C, Zink, Mangan. Heutzutage haben sich Wissenschaftler dies zu Nutze gemacht und verarbeiten Blut zu medizinischen Präparaten. Außerdem werden im Sommer Beeren gesammelt, das sind im August und September wichtige Vitamin-Quellen. Die mobilen Nomaden können hiervon allerdings keine großen Vorräte ansammeln.

Die schwierigste Zeit ist das Frühjahr, im Mai bis Juni. Dann lohnt es sich nicht, frisches Fleisch zu schlachten, weil das Rentier noch mager ist und das Fell nicht brauchbar für Kleidung. Fische können nicht mehr unter dem Eis gefangen werden, und sie sind noch nicht in die Oberläufe der Flüsse und zu den kleineren Seen gewandert. Und es gibt noch keine Beeren zu sammeln. Daher ist die Frühjahrskost relativ vitaminarm, und es gibt wenig Frisches. Mein eigener Körper war nach diesen zwei Monaten etwas geschwächt, wie ich mich erinnere.

Gas und Bodenschätze im Gebiet der Nenzen

ZDF: Die Region, in der die Nenzen leben, ist reich an Bodenschätzen, wie z.B. Erdöl und Erdgas. Welchen Einfluss hat dies auf das Leben der Menschen vor Ort?

Stammler: Russland ist einer der weltgrößten Gasproduzenten und -exporteure, ungefähr 90 Prozent seines Gasvorkommens liegen im Gebiet der Jamal-Nenzen. Die wirtschaftliche Kluft ist dort in den letzten Jahren viel größer geworden. Selbst im besten Falle eines Rentierzüchters, der sein Fleisch in großen Mengen an den staatlichen Schlachthof zum Export nach Deutschland gibt, verdient dieser weniger als die Hälfte eines durchschnittlichen, einfachen Gasarbeiters. Er bekommt derzeit circa fünf Euro pro Kilogramm Fleisch, wenn er sein privates Tier schlachtet, oder maximal 500 Euro pro Monat als Gehalt vom städtischen Rentierunternehmen. Gleichzeitig sieht er aber sehr viel Reichtum und Geld in den Städten und Dörfern. Die Jamal-Nenzische Region hat ein Pro-Kopf-Brutto-Inlandsprodukt, das höher ist als das von Großbritannien!

Derzeit wird die Industrie verpflichtet, als Ausgleich für den Landverbrauch Geld in den Landkreis zu pumpen. Doch so gut alle Intentionen zu sozialen Investitionen, Verträglichkeitsstudien, Kompensationspläne und ähnliches auch gemeint sein mögen - alle sind nach der Logik der Sesshaftigkeit ausgerichtet. Also von Leuten entworfen, die im Dorf sitzen und darüber nachdenken, wie die Erlöse aus der Industrialisierung den Lebensstandard der Bevölkerung anheben könnten - in den Siedlungen. Aber was profitiert die Nomadenfamilie von Glaspalästen im Dorf, von einem Eisstadion, das die Gasfirma spendiert? Oder von Schwimmbädern, Kulturzentren, betonierten Straßen, neuen Häuserblocks? Davon profitiert die Tundrabevölkerung kaum. Manche würden sagen - dann sollen sie halt alle sesshaft werden, dann profitieren sie auch. Doch das würde das Ende der nenzischen Kultur bedeuten. Besser wäre es, den Einfluss der Industrie in der Tundra so klein wie möglich zu halten. Man bräuchte dringend ein konstantes Monitoring nicht nur der Umwelt - sondern auch der sozialen Konsequenzen. Man müsste die Gasarbeiter in kultureller Aufmerksamkeit schulen und in die Bildung der Nomaden investieren. Wir haben gemeinsam mit einer Rentierzüchtervereinigung ein Programm vorgeschlagen, demzufolge die Nomaden selbst trainiert werden würden, den Einfluss der Industrie auf ihre Umwelt und ihre Gesellschaft zu kontrollieren, und gemeinsam mit Wissenschaftlern einen jährlichen Bericht zu erstellen. Es wäre ein großer Erfolg, wenn das angenommen würde.

ZDF: Hat die nomadische Lebensweise unter diesen Bedingungen überhaupt eine Zukunft?

Stammler: Die Jamal-Nenzen sind so ziemlich die einzigen, die ich kenne, bei denen man wirklich einen Enthusiasmus für diese Lebensweise auch bei den Jungen erleben kann. Es gibt immer noch eine relativ starke Idee des Nenei Ilgnana, des "echten Lebens". Das bezeichnet die sehr mobile nomadische Lebensweise mit einer Rentierherde. Je öfter die Leute auf Wanderung gehen, desto höher das Prestige. Die Leute sind stolz darauf. Ins Dorf geht, wer eben zu sehr ein "Weichei" ist, um in der Tundra zu leben.

Allerdings ist die Fortsetzung eines solchen Lebensstils nur möglich, wenn die Nomaden in Ruhe gelassen werden und weiter Zugang zu ihrem Land behalten. Wenn alles schief läuft, dann überlebt die nenzische Lebensweise die nächsten 50 Jahre nicht, in denen die Gasindustrie mindestens dort aktiv ist.

In Jamal hat die Lebensweise der Nomaden den "Pelzrausch" der Zaren, die russische Revolution, die Schamanenverfolgung, die Verstaatlichung, Programme zum Sesshaftmachen, die Sowjetische Industrialisierung und sogar die Putinschen Zentralisierungsbestrebungen überdauert. Warum also sollte es nicht auch mit der Gasindustrie des 21. Jahrhunderts klappen? Die Nenzen sind extrem anpassungsfähig. Ihre Umwelt hat sie das gelehrt. Aber sie brauchen dafür als wichtigste Ressource ihr Land. Ich bin daher sehr zuversichtlich, dass unsere Kinder auch nach dem das letzte Gas herausgepumpt ist, noch frisches Rentierfleisch aus nenzischer nomadischer Haltung nach Deutschland importieren können.

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