Holocaust-Gedenktag: Auseinandersetzen statt belehren

    Holocaust-Gedenktag:Experte: Auseinandersetzen statt belehren

    von Michael Kniess
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    Der heutige Holocaust-Gedenktag erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus. Wie kann moderne Erinnerungsarbeit in Zukunft aussehen? Ansätze, Ideen und Denkanstöße.

    Zwei Personen stehen vor dem Schriftzug "Arbeit macht frei" im KZ Auschwitz
    Die Frage, ob der Besuch von Gedenkstätten für Schülerinnen und Schüler verpflichtend auf dem Stundenplan stehen sollte, wird kontrovers diskutiert.
    Quelle: dpa/Kay Nietfeld, Archivbild

    Als ein junges Mädchen auf einer "Querdenken"-Demonstration 2020 ihre Geburtstagsfeier unter Corona-Regeln mit dem Leben von Anne Frank verglichen hat, sorgte das für Entsetzen. Für Imanuel Baumann macht dies vor allem eines deutlich: Es braucht eine andere Erinnerungsarbeit im Land.
    Das Problem ist für den Leiter des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände in Nürnberg dabei nicht, dass es junge Menschen an Wissen über den Holocaust und die Gräueltaten des NS-Regimes fehlt.
    Graphic-Novel-Motiv, das Adolf Hitler in braunem Hemd vor grauer Wand zeigt.
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    Weg vom Begriff "Erinnerung"

    Aus Sicht des habilitierten Geschichtswissenschaftlers, der zudem die Abteilung "Erinnerungskultur und Zeitgeschichte" bei den städtischen Museen leitet, liegt eine der größten Herausforderungen für die Erinnerungskultur und -arbeit hierzulande woanders:

    Viele können den historischen Kontext nicht mehr richtig einordnen und stellen falsche Bezüge her.

    Imanuel Baumann, Geschichtswissenschaftler

    Ein Grund, warum er mit seinem Team die Dauerausstellung im Dokumentationszentrum neu konzipiert.
    Sein Ziel: Inhalte so zu vermitteln, dass Besuchende reflektiertere Bezüge zur Gegenwart herstellen können. Das bedeutet zugleich aber auch: kürzere und interaktivere Formate, die der Lebenswelt gerade auch von jungen Menschen entsprechen.
    Darüber hinaus plädiert Baumann für eine begriffliche Umorientierung. Sein Appell: Weg vom Begriff "Erinnerung", der allzu oft mit belehrendem Unterton daherkommt. Hin zu mehr Auseinandersetzung.
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    Besuchspflicht von Gedenkstätten: Für und Wider

    "Wir dürfen nicht das Ziel verfolgen, jungen Menschen ein schlechtes Gewissen für etwas zu vermitteln, an das sie selbst nicht einmal eine eigene Erinnerung haben", gibt Baumann zu bedenken. Statt ihnen ins Gewissen zu reden, sieht er sich und seine Kolleg*innen gefragt, anschaulich zu erklären, wie sich etwa die Weimarer Republik in eine Diktatur transformieren konnte, um so zur Auseinandersetzung mit der Gegenwart anzuregen. Am besten an einem der Gedenkorte für die Opfer des Nationalsozialismus.
    Die Frage, ob der Besuch von Gedenkstätten verpflichtend auf dem Stundenplan stehen sollte, wird kontrovers diskutiert. Für Professor Alfons Kenkmann, zu dessen Forschungsschwerpunkten unter anderem die Geschichte historischen Lernens und Gedenkstättendidaktik zählen, steht fest:

    Das Massaker vom 7. Oktober durch die Hamas hat uns die Zeitlosigkeit des Holocaust vor Augen geführt. Er kann Jüdinnen und Juden immer wieder und jederzeit treffen.

    Alfons Kenkmann, Historiker

    "Das heutigen Angehörigen der jungen Generation zu vergegenwärtigen, sollte in Zukunft verpflichtend an Gedenkstätten erfolgen", sagt er.
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    Politik und Schulen sind gefordert

    Aus Sicht des Historikers - 2010 für seine historische und erinnerungskulturelle Aufarbeitung der deutschen Geschichte mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet - böte ein solcher Besuch Lernangebote an historisch kontaminierten Orten und unterscheide sich damit zentral vom Format des Schulbuchs.
    Wobei aber weiterhin diskussionswürdig bleibe, wie viel "Durchschuss an deutscher Geschichte" jungen Geflüchteten für eine Integration in unsere Gesellschaft aufgebürdet werden sollte.
    Für Baumann ist eine grundsätzliche Besuchspflicht nicht die richtige Antwort. Stattdessen sieht er die Politik in der Verantwortung, an den Schulen ausreichend Ressourcen bereitzustellen, um zu einem Besuch zu motivieren. Er betont:

    Es braucht ein breiteres finanzielles Fundament für außerschulische Bildung - aber auch das nötige Zeitbudget im Stundenplan, damit ein Gedenkstättenbesuch nicht immer nur eine lästige 'on top-Leistung' ist.

    Imanuel Baumann, Geschichtswissenschaftler

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    Geschichtsbewusstsein im Alltag

    Auch Kenkmann setzt auf die Selbstverpflichtung von Schulen, wenn es um historische Vermittlungsarbeit geht: "Bildungsarbeit zur NS-Gewaltherrschaft und zum Holocaust muss auch woanders erfolgen, weil Gedenkstätten keine eierlegenden Wollmilchsäue sind."
    Was in seinen Augen noch weiter intensiviert werden könnte, ist eine Sensibilisierung für die Möglichkeiten des Outdoorlernens - beispielsweise Erinnerungstafeln an Gebäuden, Straßennamen oder Stolpersteine. Auch diese zählten zum Geschichtsatlas einer jeden Stadt.
    Frankfurter Stolpersteine mit einer gelben Rose
    Drei Stolpersteine in Frankfurt am Main.
    Quelle: dpa/Sascha Lotz, Archivbild

    Künftig fehlende Zeitzeug*innen

    Fehlen werden in absehbarer Zeit Zeitzeug*innen, die durch ihre Erzählungen die Geschichte lebendig werden lassen können. Ein Umstand, der Baumann große Sorgen bereitet:

    Wenn es diese Menschen nicht mehr gibt, droht die Gefahr, dass die Grenzen des Sagbaren noch unverfrorener verschoben werden, als es bislang bereits der Fall ist.

    Imanuel Baumann, Geschichtswissenschaftler



    Deshalb sehen er und Kenkmann als eine ihrer großen Aufgaben, deren Vermächtnis auch mit Hilfe des Digitalen weiterleben zu lassen. Eines darf dabei aber aus ihrer Sicht auf keinen Fall eintreten: dass Künstliche Intelligenz die Zeitzeug*innen ersetzt.

    Neue Studie
    :Weltweit noch 245.000 Holocaust-Überlebende

    Die Zahl der Holocaust-Überlebenden nimmt ab: Laut einer Studie leben weltweit noch 245.000. Die Welt müsse die Erinnerung aufrechterhalten, fordert die Überlebende Bennicasa.
    Konzentrationslager Auschwitz II-Birkenau, aufgenommen am 27.01.2021

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