Kinderarbeit: Bis zu 375 Millionen Kinder ausgebeutet?

    Gefährdende Kinderarbeit:Bis zu 375 Millionen Kinder ausgebeutet?

    von Marcel Burkhardt (Text), Michaela Waldow (Grafiken)
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    Im Juni warnte Unicef vor einem Scheitern im Kampf gegen Kinderarbeit. Eine neue Studie legt nahe, dass weltweit weit mehr Kinder geknechtet werden als bislang angenommen.

    Kinderarbeit in Bangladesch
    Kinderarbeit in Bangladesch
    Quelle: dpa

    • Laut Unicef werden weltweit 160 Millionen Kinder ausgebeutet.
    • Ein Studie der Uni Zürich kommt zu dem Schluss, dass das Ausmaß an Kinderarbeit aber noch viel größer sein könnte.
    • Save the Children fordert bessere Untersuchungsmethoden.

    Wie viele Kinder schuften weltweit in Kakaoplantagen, Bergwerken und Fabriken für unsere Schokolade, Handys, Kleidung und vieles mehr? Sind es 160 Millionen oder - wie eine neue Studie schätzt - sogar bis zu 375 Millionen?
    Gewiss ist: Setzt sich der aktuelle Negativtrend fort, droht die Weltgemeinschaft ihr Ziel, Kinderarbeit bis 2025 zu beseitigen, deutlich zu verfehlen.

    Ein weltweites Beben, ausgelöst in Zürich?

    Guilherme Lichand, Wirtschaftswissenschaftler der Universität Zürich und Hauptautor der Studie, ist ein Mensch, der vorsichtig formuliert. Was er zu sagen hat, könnte aber ein Beben auslösen - bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) und Regierungen in aller Welt, die verpflichtet sind, Kinderrechte zu verteidigen.
    Denn, so Lichand, die von der ILO und Unicef berichtete Zahl von 160 Millionen Kinderarbeitern weltweit "könnte das Ausmaß des Problems bedeutend unterschätzen".

    Neue wissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass das Ausmaß der globalen Kinderausbeutung womöglich noch größer ist als bislang bekannt. Was sind die Ursachen? Wer trägt wirtschaftlich und politisch Verantwortung? Welche Macht haben internationale Finanzinvestoren? Und helfen neue Lieferkettengesetze, Kinderrechte künftig besser zu schützen?

    ZDFheute geht diesen Fragen in einer siebenteiligen Serie nach. Bisher erschienen:

    "Eltern haben keinen Anreiz", Kinderarbeit offenzulegen

    Gemeinsam mit Co-Autorin Sharon Wolf von der University of Pennsylvania (USA) verweist der Ökonom darauf, dass die ILO-Informationen wesentlich auf Eltern-Umfragen beruhten. Der Haken: Eltern hätten "keinen Anreiz, wahrheitsgemäß offenzulegen, dass ihre Kinder arbeiten".
    Auf mehrfache ZDFheute-Anfrage hat sich die ILO bislang nicht zu der Kritik geäußert. Auch Claudia Cappa, Statistik-Expertin am Unicef-Hauptsitz New York, kommentiert die Studie nicht. Sie spricht aber von einem "komplexen Unterfangen", qualitativ hochwertige Daten über Kinderarbeit zu erhalten.
    Für ihre Feldstudie in der Elfenbeinküste, wo zur Kakaoernte Hunderttausende Kinder extrem armer Kleinbauern in den Plantagen arbeiten müssen, setzten Lichand und Wolf auf eine Kombination aus "unabhängigen Berichten" von Grundschulkindern und deren Eltern, Daten der Nonprofit-Organisation Enveritas, die im Auftrag großer Unternehmen Kakao zertifiziert sowie auf Daten aus Satellitenbildern. Das Ergebnis der Stichprobe:

    Mehr als 60 Prozent der Eltern haben nicht über die Tatsache berichtet, dass ihre Kinder arbeiten.

    Forscherteam Guilherme Lichand und Sharon Wolf

    Auch in einer Reihe anderer Staaten hat Lichand zwischen den ILO-Kinderarbeitsdaten und seinen Berechnungen teils extreme Differenzen ausgemacht. So kommt er in Indien und Brasilien, aber auch in europäischen Ländern wie Serbien, Rumänien oder Portugal auf viel höhere Zahlen für Kinderarbeit als die ILO.
    Zahlen zur Kinderarbeit laut neuer Studie
    ZDFheute Infografik
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    375 Millionen ausgebeutete Kinderarbeiter weltweit?

    Lichand berichtete in seinem Heimatland Brasilien, dass laut seinen statistischen Modellrechnungen weltweit bis zu 375 Millionen Kinder im Alter von sieben bis 14 Jahren von Kinderarbeit betroffen sein könnten. So erklärt Lichand auf ZDFheute-Nachfrage:

    Diese Schätzung stützt sich auf einige starke Annahmen, insbesondere, dass der Grad der Untererfassung von Kinderarbeit in anderen Ländern und Branchen dem der ivorischen Kakaoindustrie ähnelt.

    Guilherme Lichand, Universität Zürich

    Der Forscher verweist auf mögliche "Verzerrungen" in seinen komplexen Berechnungen. Gleichzeitig sagt er: "Auch die ILO ist sich bewusst, dass ihre Methodik Grenzen hat." Wichtig sei ihm vor allem, auf eine mögliche "gravierende und dramatische Unterschätzung" des Ausmaßes der globalen Kinderarbeit hinzuweisen. 

    Erst die Daten, dann die Aktionsprogramme

    Santadarshan Sadhu, Datenerhebungsspezialist am NORC-Institut der Universität von Chicago (USA), unterstützt Lichands Ziel nachdrücklich. Schließlich habe die Qualität der erhobenen Daten große Auswirkungen auf Programme zur Bekämpfung gefährlicher und ausbeuterischer Kinderarbeit.
    Regierungen und internationale Organisationen könnten Kinder effektiv nur schützen, wenn Kinderarbeit "so akkurat wir nur möglich erfasst" werde, so Sadhu im Gespräch mit ZDFheute.
    Mehrere Kindejockeys bei einem Rennen
    Kinderarbeit in Sumbawa: Das harte Schicksal von Kinderjockeys01.12.2022 | 86:23 min

    Eltern in der Zwickmühle?

    Während Unicef-Statistikexpertin Cappa die bisher geleistete "rigorose methodische Arbeit" verteidigt und ethische Bedenken erörtert, die gegen das Befragen von Kindern sprächen, plädiert Philipp Appel von der Kinderhilfsorganisation "Save the Children" für ein konsequentes Weiterentwickeln der Umfragemethoden.
    Elternaussagen als wesentliche Quelle zum Thema Kinderarbeit betrachtet Appel als unzureichend: "Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Eltern nicht immer akkurate Zahlen angeben wollen", so Appel.
    Das habe etwas mit Unsicherheit und Angst vor möglichen Konsequenzen zu tun und auch damit, "dass Eltern sich dafür schämen, die Arbeitskraft ihrer Kinder für das Aufbringen des Haushaltseinkommens zu erfordern".

    Kinderarbeit extrem stark verbreitet

    Anmelderaten in Schulen und eine Kontrolle des Schulbesuchs könnten eine wichtige Quelle sein, um das tatsächliche Ausmaß von Kinderarbeit künftig genauer zu messen.

    Uns muss immer klar sein, dass es in nahezu jeder Branche Kinderarbeit gibt. Deswegen ist es sehr wahrscheinlich, dass die Daten der ILO allenfalls eine Entwicklungsrichtung zeigen.

    Philipp Appel, Save the Children Deutschland





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