Russischer Durchbruch bei Awdijiwka - die Militäranalyse
Analyse
Kessel noch unwahrscheinlich:Awdijiwka: Russen kamen durch Kanalisation
von Christian Mölling, András Rácz
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Der Druck auf die Ukraine wächst: Russische Truppen stoßen überraschend durch die Kanalisation in die Stadt Awdijiwka vor. Eine großflächige Einkesselung ist noch unwahrscheinlich.
Das Blatt scheint sich bei Awdijiwka zu wenden. Russischen Truppen gelang es in den letzten Tagen, südöstlich von Awdijiwka einen ungenutzten Abwassertunnel zu finden, der in den Rücken der ukrainischen Hauptverteidigungslinie führt. Die ukrainischen Verteidiger wussten offenbar nichts von der Existenz des Tunnels, sonst hätten sie ihn abgeriegelt oder zerstört. Durch die Durchquerung des etwa 1.200 Meter langen Tunnels gelang es den Russen, die ukrainischen Truppen zu überraschen, die die Hauptverteidigungslinie südöstlich der Stadt beim Restaurant "Tsarska Okhota" hielten.
Das Auftauchen der russischen Streitkräfte in ihrem Rücken zwang die Ukrainer zum Rückzug und damit zur Aufgabe ihrer Stellungen, die sie seit Beginn des Krieges, also seit fast 24 Monaten, gehalten hatten. Dies war praktisch der letzte Abschnitt der Frontlinie, in dem die Ukrainer noch die gut befestigten Stellungen hielten.
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Erfolglose Gegenangriffe durch fehlende Artilleriemunition
Die Ukraine unternahm mindestens einen, möglicherweise zwei Gegenangriffe, die jedoch erfolglos blieben. Der Mangel an Artilleriemunition machte es unmöglich, den russischen Einbruch zu isolieren und anschließend zu neutralisieren. Zwar gelang es den Ukrainern, den angreifenden russischen Kräften durch den Einsatz einer großen Zahl von FPV-Drohnen schwere Verluste zuzufügen, doch konnten diese das Fehlen eines effizienten, konzentrierten Artilleriefeuers nicht ersetzen.
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Seitdem ist es den Russen gelungen, die Lücke, die sie in die ukrainische Verteidigung in dieser Region gerissen haben, zu vergrößern. Zusätzlich zu dem ursprünglichen Einfall beim Restaurant "Tsarska Okhota" haben sie einen weiteren Einfall etwas nordöstlich, aus Richtung Yasinuvata, vorgenommen.
Weitere Rückzüge wahrscheinlich
Indem sie diese Keile in die von den Ukrainern gehaltenen Gebiete treiben, versuchen die Russen offenbar, kleine Kessel, kleine Umzingelungen innerhalb der Awdijiwka-Tasche zu schaffen. Um eine Einkreisung zu vermeiden, müssen sich die ukrainischen Truppen möglicherweise nach und nach aus mehreren Stellungen zurückziehen und ihre Linien begradigen, am ehesten im südlichen Teil der Ruinenstadt.
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Derzeit verstärken ukrainische Pioniere und Infanteristen verzweifelt ihre Reservestellungen am südlichen Stadtrand von Awdijiwka. Diese Stellungen haben jedoch wahrscheinlich weder die Stärke noch die Komplexität der Stellungen, die südöstlich der Stadt verloren gingen. Sollte es Russland außerdem gelingen, weitere Keile in die ursprünglichen Verteidigungslinien zu treiben, könnte sich auch die Gefahr einer Einkreisung erhöhen.
Die Autoren der Militäranalyse:
Quelle: DGAP
... leitet das Programm "Europas Zukunft" für die Bertelsmann Stiftung in Berlin. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Ob Awdijiwka gehalten werden kann, hängt vor allem von der Bereitschaft der ukrainischen Militärführung ab, höhere Verluste in Kauf zu nehmen, um das Gebiet zu halten, sowie von der Verfügbarkeit zusätzlicher Artilleriemunitionslieferungen.
Ukraine dürfte Einkreisung vermeiden können
Bislang war die ukrainische Militärführung stets diszipliniert und geschickt genug, eine großflächige Einkreisung ihrer Streitkräfte zu vermeiden. Die einzige Ausnahme war Mariupol, das noch in den ersten Tagen des Krieges eingekesselt wurde. Überall sonst haben sich die ukrainischen Truppen nach langen Abwehrkämpfen im letzten Moment gut organisiert zurückgezogen: in Sewerdonezk, Lyssytschansk, später auch in Bachmut.
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Es ist daher davon auszugehen, dass Kiew, sollte die weitere Verteidigung von Awdijiwka unhaltbar werden, erneut eine ähnliche Entscheidung treffen und seine Truppen rechtzeitig zurückziehen wird, um eine Einkreisung zu vermeiden. Dies gilt umso mehr, als Russland seit langem nicht mehr über gut ausgebildete Panzer- und Mechanisierungskräfte verfügt, die in der Lage wären, überraschende, groß angelegte Zangenmanöver um Awdijiwka durchzuführen.
Selbst wenn es den Russen gelingen sollte, Awdijiwka einzukesseln, wird dies daher eher das Ergebnis eines langsamen, schleichenden Vormarsches als eines blitzkriegartigen, zerstörerischen Durchbruchs sein, der den verbleibenden Verteidigern genügend Zeit lässt, sich zurückzuziehen und so eine Einkreisung zu vermeiden. Die Schlacht ist jedoch noch nicht zu Ende.
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Möglicher Rückenwind für Putins Wiederernennung
Aus politischer Sicht könnte die Einnahme von Awdijiwka noch vor den sogenannten Präsidentschaftswahlen am 17. März dem Kreml die Möglichkeit bieten, das Ende der 24-monatigen Belagerung als großen Sieg zu präsentieren. Kiew hätte sicherlich nichts dagegen, wenn es dem Kreml diesen Erfolg vorenthalten könnte.
Doch bis zu den russischen Präsidentschaftswahlen sind es noch mehr als sechs Wochen. Da die ursprünglichen Hauptverteidigungslinien teilweise durchbrochen wurden, würde es für die Verteidiger ein harter Kampf werden.
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