Provinz Hatay: Sechs Monate nach dem Jahrhundertbeben

    Türkische Provinz Hatay:Was bleibt sechs Monate nach dem Beben?

    von Mitri Sirin
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    Eine der ältesten Städte der Welt, Antakya, wurde bei dem Erdbeben in der Türkei vor sechs Monaten fast völlig zerstört. Viele Menschen flohen, andere trotzen der Katastrophe.

    19.07.2023, Türkei, Antakya: "Wir kommen wieder" steht an einer Wand eines Hauses, vor dem noch Trümmer des Erdbebens vor fast sechs Monaten liegen.
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    Eine gigantische Staubwolke liegt über der Stadt Antakya im Süden der Türkei und bremst das gleißende Sonnenlicht. Der heiße und böige Westwind wirbelt zermalmte Reste einer der wohl schönsten antiken Städte der Welt durch die Luft. Wie geht es der Region sechs Monate nach dem Jahrhunderterdbeben? Und welche Hoffnung bleibt den Menschen, die weiter in versehrten Städten wie Antakya leben?
    Murat schaut ungläubig auf ein Steinfeld, das früher sein Zuhause war. Erst vor wenigen Wochen, erzählt er, wurden die Reste ihres Hauses bis zur Grundfläche abgetragen. Mit Riesenglück haben der 24-Jährige und seine Eltern die Beben-Nacht am 6. Februar 2023 überlebt. Mehr als 100 Verwandte seiner Familie nicht.
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    90 Prozent der Gebäude zerstört

    Jeder in Antakya trauert, jeder verlor entweder geliebte Menschen, sein Heim oder beides. 90 Prozent der Gebäude sind zerstört und müssen komplett abgerissen werden, aber bis heute haben die Bagger erst zehn Prozent geschafft.
    Es wird also vermutlich noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis die Stadt wiederaufgebaut ist. Jahre, in denen sich ein weiteres Drama in Zeitlupe abspielt. Mit jedem weiteren Tag und jedem weiteren abgerissen Gebäude verschwindet ein weiteres Stück Heimat.

    Bleiben oder gehen?

    Aber Murat will bleiben. Er ist leidenschaftlicher Koch. Schon mit sechs Jahren, erinnert er sich, schaute er seiner Oma fasziniert beim Kochen zu. Heute ist er über die Grenzen seiner Heimat hinaus bekannt, war Teilnehmer einer beliebten TV-Koch-Castingshow und steht für die spektakuläre Küche der Region Hatay, in der Antakya liegt.
    Sie kombiniert Jahrhunderte alte Kulturen und verschiedenste Einflüsse. Feurig scharfe Haupt- und Vorspeisen, reich an Gemüse und Hülsenfrüchten, verfeinert mit lokalen Kräutern und Gewürzen.
    Bleiben oder gehen, ist in Hatay zur Leitfrage geworden. Zehntausende haben die über 500.000 Einwohner zählende Provinz-Hauptstadt Antakya bereits verlassen. Große Teile der Wirtschaft sind am Boden, die Arbeitslosigkeit ist stark gestiegen. Geld wird anderswo verdient. Es sei denn, man arbeitet in der Bau- oder Abrissbranche.
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    Der Wiederaufbau läuft schleppend

    Was macht ein Twentysomething in einer Stadt, die eigentlich keine mehr ist? Murat möchte zeigen, wo er gerade am liebsten seine Zeit verbringt. Dafür muss er kilometerlang durch kriegsähnliche Trümmerlandschaften fahren und unzählige leere, vom Erdbeben entstellte Gebäude sehen. Drumherum Bagger, sehr viele Bagger: kleine, große, noch größere.
    Schon wieder hämmert ein Caterpillar mit seinem langen Stoßarm auf ein mehrstöckiges Wohnhaus und reißt einen Großteil der Vorderfront ab. Der herunterstürzende Zementbrocken hüllt die Umgebung in dichten weißen Staubnebel.
    Warum die Türkei eine Region ist, in der es vermehrt zu solchen Katastrophen kommen kann, liegt an den Erdplatten:
    Murat zeigt auf einen LKW: Auf der Ladefläche, garagengroße Knäuel aus dicken Stahlstreben, die von Häuserresten stammen. Sie prägen das Stadtbild ebenso wie unzählige Zelt- und Containercamps, die es inzwischen in jedem Viertel gibt. So auch am Stadtrand.
    Auf einer Anhöhe liegt das Café LOSS. Ein Freund von Murat hat es vor einem Monat eröffnet. Von Bambuspflanzen umgeben: ein großer, modern anmutender Pavillon mit einer aus Holz gezimmerten Bar. Der Duft frisch geschnittener Limetten umweht die Tische, an denen überwiegend junge Leute sitzen. Scheinbar normales Leben. Weit weg vom Verlust, den so viele spüren und doch mitten drin. LOSS, englisch für Verlust.

    Murats Traum: ein eigenes Unternehmen

    Angespornt vom Freund erzählt Murat von seinen Plänen: Er träumt von einem eigenen Hotel- und Restaurantbetrieb und arbeitet schon an der Umsetzung. "Wir sind hier und gehen nicht weg!", ist zum Hashtag und Slogan vieler Menschen in Hatay geworden. Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen und ein Trotzen der Realität.
    Ob die Region eine Zukunft hat, hängt auch davon ab, ob Geflüchtete zurückkehren, aber eben auch, ob junge Menschen wie Murat und seine Freunde bleiben.
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