Berlins neue Rolle unabhängig vom Westen | Terra-X-Kolumne

    Terra X - die Wissens-Kolumne:Deutschlands neue Rolle unabhängig vom Westen

    von Pankaj Mishra
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    Deutschland ist politisch und kulturell Teil des politischen Westens. Aber es gibt Unterschiede zu den übrigen Staaten. Es wird Zeit für eine neue Selbstwahrnehmung Deutschlands.

    Terra X - Die Wissens-Kolumne: Pankaj Mishra

    Die Aufnahme Deutschlands in die westliche Gemeinschaft der Demokratien war ein äußerst positiver Schritt. Aber ist dieser Weg für Deutschland weiterhin gangbar, jetzt, wo der Westen selbst ein in sich nicht mehr so ganz stimmiges Gebilde geworden ist?

    In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.

    Weniger Respekt gegenüber westlichen Demokratien

    Das kulturelle Prestige und die moralische Wertschätzung, die Ländern wie den USA und England früher entgegengebracht wurden, hat deutlich abgenommen - nach all dem, was dort in den vergangenen zehn Jahren unter Politikern wie Donald Trump oder Boris Johnson geschehen ist. In Asien und Afrika finden diese Staaten kein Gehör mehr, wenn diese von Demokratie oder vom Kampf gegen die Autokratien, wie Russland und China, sprechen. Immer weniger Menschen wollen von dieser Entwicklung hören. Im Gegenteil: Sie wird zunehmend infrage gestellt.

    Demokratie und Industrialisierung bremsen sich aus

    Die große amerikanische Erzählung der vergangenen 30 Jahre trägt nicht mehr: Globalisierung ist gleich Globalisierung unter amerikanischen Vorzeichen, die Volkswirtschaften müssen freie Marktwirtschaften werden. Sozialismus und Planwirtschaft kommen nicht infrage. Und gleichzeitig soll alles auf demokratische Strukturen hinauslaufen. Doch diese Fantasiegebilde sind im Wesentlichen zerplatzt.
    Ein Grund: Es ist unfassbar schwer, den Prozess einer wirtschaftlichen Modernisierung und Industrialisierung zu durchlaufen und gleichzeitig eine Demokratie zu werden oder zu bleiben. Diese Prozesse stehen miteinander in Konflikt. Das haben wir immer wieder und in vielen Ländern erkennen müssen. Auch in Deutschland oder in Japan war es schwer, die Entwicklung der Demokratie mit dem überlebensnotwendigen Gebot der Modernisierung auf dem Weg zu starken Nationalstaaten in Einklang zu bringen. Und genau diese Geschichte wiederholt sich jetzt überall in Asien, Afrika und Lateinamerika.

    China und Indien ersetzen amerikanische Ideologie

    Die ethnisch-rassistischen und teilweise radikalen Ideologien in Ländern wie China, Indien oder Russland haben ihren Ursprung darin, dass dort die herrschenden Eliten, aber auch die normalen Bürger, die früher der amerikanischen Glaubenslehre anhingen, von diesem Glauben abgefallen sind. Sie produzieren ihre eigenen Erzählungen: der Hindu-Nationalismus, der russische Imperialismus, der chinesische Überlegenheitsglaube, all das sind Versuche, die letzte weltumspannende Ideologie zu ersetzen, die in Amerikanisierung plus Globalisierung bestand.
    Doch das "Zeitalter des weißen Mannes" ist endgültig vorbei. Als weißer Mann in Afrika oder Asien war man Herr und Meister über alles, was einem unterstand. Diese Epoche ist beendet. Es gibt einen Machtverlust, der bereits in der Zeit der Entkolonisierung begann - als Nationen wie Indien, China, Indonesien, große bevölkerungsreiche Länder also, sich von den europäischen Herrschern abzuwenden begannen und sich politisch, geistig und moralisch einen Platz auf der größeren weltgeschichtlichen Bühne verschafften.

    Die Macht des Westens nimmt spürbar ab

    Selbstverständlich sind die USA immer noch ein sehr mächtiges Land. Sie zeigen die größte Militärpräsenz weltweit, sie besitzen ein riesiges Atomwaffenarsenal, und sie sind eine sehr starke Volkswirtschaft. Aber im Vergleich zu dem, wie sie vor 50 oder 60 Jahren dastanden, fallen sie zurück. China und andere arbeiten an ihrem Aufstieg und treten sowohl geopolitisch als auch wirtschaftlich viel selbstbewusster auf. Kurz gesagt: Der Westen stellt nicht mehr das mächtige Gebilde dar, das er früher einmal war.
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    Deutschland bereut - andere Länder nicht

    Innerhalb dieses Westens spielt Deutschland eine besondere Rolle. Es gibt einen Unterschied zwischen Deutschland und den vermeintlichen Vorbildstaaten des Westens, den Vereinigten Staaten, England und Frankreich. Diese waren die dominierenden imperialistischen Mächte des 19. und 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu Deutschland haben sich diese nie kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt. Mit einer Vergangenheit, die im Wesentlichen durch Gewalt und die Ausplünderung schwächerer Völker, manchmal durch Genozid an indigenen Bevölkerungen geprägt war, auch durch Sklaverei, durch horrende Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die niemals voll anerkannt, niemals umfassend bewältigt worden sind.
    In Deutschland ist das anders: Über mehrere Generationen hinweg wurden die von Deutschen begangene Verbrechen thematisiert und darüber aufgeklärt. Dieser so besondere Prozess, diese ganz besondere geschichtliche Erfahrung versetzt Deutschland in eine eigenständige Position.
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    Deutschland könnte mehr

    Dennoch verharrt Deutschland - zum Erstaunen vieler Beobachter - an der Seite der imperialistischen Mächte des Westens, die in großen Teilen des globalen Südens zunehmend an Glaubwürdigkeit einbüßen. Es könnte aus seiner eigenen Erfahrung eine Tugend machen und sich selbst als unabhängige, souveräne Nation mit einer besonderen Geschichte sehen und darstellen.
    Deutschland könnte seine besondere historische und wirtschaftliche Entwicklung als Folge des so erfolgreichen Sozialstaats darstellen, durch einen Staat, der auf die Belange seiner Bürger eingeht und sie ernst nimmt. Deutschland steht für den modernen Sozialstaat.
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    ... ist Kulturhistoriker, Schriftsteller und Literaturkritiker. Er stammt aus einer indischen Kleinstadt am Himalaya, lebt zeitweilig in London und beschäftigt sich mit dem sozialen und kulturellen Wandel Indiens.

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