75 Jahre Bundesrepublik Deutschland: "Demokratie feiern"

    Interview

    75 Jahre Bundesrepublik:"Es gibt allen Grund, das zu feiern"

    von Marcel Burkhardt
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    Was die Deutschen aus 75 Jahren Bundesrepublik über aktuelle Krisen lernen können: Ein Gespräch mit der Historikerin Christine G. Krüger und dem Historiker Friedrich Kießling.

    Die Fassade des Reichstagsgebäudes und dessen Kuppel.
    Das Reichstagsgebäude in Berlin repräsentiert das Zentrum der parlamentarischen Demokratie und ist ein symbolträchtiger Ort der politischen Geschichte, an dem der Deutsche Bundestag tagt.
    Quelle: AFP

    ZDFheute: Das 75-jährige Bestehen der Bundesrepublik wird in diesen Tagen nicht nur in Berlin groß gefeiert. Wie blicken Sie auf das Geschehen?
    Friedrich Kießling: Ich denke, es gibt allen Grund, die Gründung unseres demokratischen Staates zu feiern - und dass es den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, die Demokratie zu etablieren und fest zu verankern! Wir können natürlich auch die Liberalisierung unserer Gesellschaft feiern und die friedliche Revolution in Ostdeutschland 1989.

    … ist seit 2020 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn. Er forschte und lehrte unter anderem in London, Wien und Dresden. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die "Nachgeschichte" des Nationalsozialismus sowie die Gründung und Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1949-1990. Über die Herausforderungen für Rechtsstaat und Demokratie in Deutschland hat Kießling gemeinsam mit dem Erlanger Straf- und Völkerrechtsprofessor Christoph Safferling zuletzt das Buch "Der Streitfall" veröffentlicht.

    Christine G. Krüger: Die stark vorangetriebene Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ist ein weiterer Grund zu feiern. Nicht zu vergessen die europäische Integration und der Aufbau der deutsch-französischen Freundschaft nach Jahrhunderten der Rivalität und mehrerer großer Kriege. Da ist ein großer historischer Erfolg.

    Wir müssen aber auch wachsam sein und die demokratischen Errungenschaften in Deutschland verteidigen in einer Zeit, in der es sehr starke Angriffe auf diese Demokratie gibt.

    Christine G. Krüger

    … ist seit 2021 Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn; zuvor lehrte sie an der Uni Greifswald. Zu Ihren aktuellen Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem die Frage, welche "Versöhnungspraktiken" verfeindete Nationen oder gespaltene Gesellschaften nach Kriegen oder Diktaturen anstrebten oder praktizieren.

    ZDFheute: Von einer "Krise der Demokratie" ist häufig die Rede. Wie bewerten Sie das?
    Kießling: Einerseits ist meine Sorge auch groß mit Blick auf die erstarkten antidemokratischen, extremistischen Kräfte, die das politische und gesellschaftliche Klima nicht nur in Deutschland vergiften wollen.

    Auf der anderen Seite sehe ich die Stärke unserer Demokratie: Nie sind in diesem Land mehr Menschen zum Schutz der Demokratie auf die Straße gegangen als zu Beginn dieses Jahres.

    Friedrich Kießling

    Es gibt also viel mehr Menschen, die sich für den Schutz der Demokratie stark machen als jene, die sie beseitigen wollen.
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    ZDFheute: Deutschland musste sich nach 1945 völlig neu "erfinden", denn nach dem Zweiten Weltkrieg war das Land moralisch bankrott und völlig zerstört. Welche Faktoren waren entscheidend für den Neuanfang?
    Krüger: Ich denke, ein wichtiger Faktor war zunächst die Besatzung Deutschlands durch die Alliierten. Die West-Alliierten haben ein starkes Gewicht auf die Demokratisierung des Landes gelegt; vor allem in den Schulen, aber auch in anderen Institutionen des Staates.
    Die West-Alliierten haben außerdem den wirtschaftlichen Wiederaufbau in der jungen Bundesrepublik gefördert. Beides gab es in dieser Form in der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR nicht.
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    Kießling: In der Bundesrepublik war es zudem so, dass die Zivilgesellschaft auf demokratische Erfahrungen vor der Zeit des Nationalsozialismus zurückgreifen konnte. Auch die vielen Kritiker der jungen Bundesrepublik haben dann im Lauf der Zeit gesehen, dass dieses System in der Lage ist, Probleme zu lösen, politisch und wirtschaftlich. Das hat die Gesellschaft stabilisiert.
    Auch Rolle des Bundesverfassungsgerichts ist sehr wichtig: Es hat der Politik immer wieder die Grenzen aufgezeigt.

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    ZDFheute: Was können wir aus der jüngeren Geschichte Deutschlands nach 1945 für das Gestalten der Zukunft vor allem lernen?
    Kießling: Ich glaube, wir sollten mehr würdigen, wie es die Bundesrepublik geschafft hat, Ost und West nach 40 langen Trennungsjahren und höchst unterschiedlicher Entwicklung wieder miteinander zu vereinigen.
    Und ganz generell: Es ist in der Geschichte der Bundesrepublik im Prinzip stets gelungen, Konflikte innerhalb des politischen Systems auszutragen. Dazu gab und gibt es immer wieder wichtige Impulse von außen, die letztlich von der Politik aufgenommen wurden. Beispiele sind die 68er- und die Umweltschutz-Bewegung oder die Jugend heute bei Fridays for Future. Daran können und müssen wir auch jetzt anknüpfen.
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    ZDFheute: Sie haben die Wiedervereinigung Deutschlands angesprochen. Wie sehr haben die Menschen aus Ostdeutschland die Bundesrepublik seit 1990 mitgeprägt?
    Kießling: Ich denke, das unterschätzen wir oft. Etwa in der Diskussion über soziale Fragen, die Kinderbetreuung oder im Blick auf unsere internationalen Beziehungen. Viele Menschen in Ostdeutschland sind geprägt durch die DDR-Geschichte: Es gibt eine hohe Aufmerksamkeit für soziale Themen, für internationale Zusammenarbeit, auch für Pazifismus.
    Lange Zeit hat der Westen auch mit einer gewissen Ignoranz auf den Osten geblickt: So war zum Beispiel das Abtun des Rechtsextremismus als ostdeutsches Problem sehr problematisch. Inzwischen sehen wir, wie stark die Rechtsextremen auch im Westen sind und dass es einer gemeinsamen Anstrengung bedarf, um die Demokratie zu bewahren.
    Das Interview führte Marcel Burkhardt.

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