Russland abwehren: Fehlplanungen bei neuer Bundeswehr-Truppe

    Exklusiv

    Soldaten äußern massive Kritik:Fehlplanungen bei neuer Bundeswehr-Truppe

    von Nils Metzger, Michael Strompen
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    Greift Russland das Baltikum an, muss die Bundeswehr schnell reagieren. Doch beim Umbau des Heeres gibt es Probleme. Werden die neuen "Mittleren Kräfte" zur mittleren Katastrophe?

    Soldat mit Schusswaffe bei Schießübung
    Putin bedroht das Baltikum. Mit sogenannten "Mittleren Kräften" will die Bundeswehr dort im Ernstfall schnell eingreifen können - doch Insider berichten von vielen Problemen mit der neuen Truppe.13.02.2024 | 12:37 min
    Ein russischer Angriff auf das Baltikum - dieses Szenario wird in den Augen der Nato immer realistischer. "Damit rechnen muss man. Und wenn man mit etwas rechnen muss, (…) dann heißt das, man muss sich dafür wappnen", warnt Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD).
    Die Sorge: Russland könnte schon in wenigen Jahren in Litauen einmarschieren und die sogenannte Suwalki-Lücke, einen schmalen Landkorridor zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und Belarus besetzen. Das Nato-Gebiet würde getrennt, das Baltikum abgeschnitten.
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    Was die "Mittleren Kräfte" leisten sollen

    Um einem russischen Angriff an der Ostflanke der Nato etwas entgegensetzen zu können, strukturiert die Bundeswehr ihre Landstreitkräfte von Grund auf um. Das Projekt heißt "Mittlere Kräfte". Drei Brigaden des Heeres sollen vollständig mit schnellen Radfahrzeugen unterwegs sein, nicht auf langsamer Panzerkette.
    Was wie ein kleiner Unterschied klingt, bedeutet praktisch eine andere Art zu kämpfen - mobiler, aber auch leichter gepanzert. Dafür investiert die Bundeswehr Milliarden Euro in neue Fahrzeuge; ein guter Teil des Sondervermögens ist für dieses Vorhaben eingeplant.
    Karte: Kaliningrad
    Das Baltikum mit der Nato-Ostflanke. Die kritische Suwalki-Lücke liegt zwischen Kaliningrad und Belarus.
    Quelle: ZDF

    Eine erste Brigade "Mittlere Kräfte" soll im kommenden Jahr aufgestellt werden. Für sie gibt es feste Vorgaben: Innerhalb von drei Tagen müssen sie marschbereit sein und 400 Kilometer am Tag zurücklegen können. Deutlich schneller als Kampf- oder Schützenpanzer, die erst mit Zügen oder Lkw Richtung Front transportiert werden müssen.
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    Verlegbarkeit laut internen Papieren erheblich eingeschränkt

    Hier aber klafft die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Trotz jahrelanger Planungen wurden bei vielen Beschaffungsprojekten für die "Mittleren Kräfte" noch keine Verträge unterzeichnet. Als Folge kommen die notwendigen neuen Fahrzeuge viel zu langsam in der Truppe an.
    ZDF Frontal liegt ein internes Bundeswehr-Papier vor. Darin heißt es, Zitat:

    Daraus folgt eine nur eingeschränkte Erfüllung der geforderten Anforderungen an [die Mittleren Kräfte]. Beispielsweise schränkt dieser Umstand die Verlegefähigkeit (…) erheblich ein.

    Internes Bundeswehr-Papier

    Das entscheidende Alleinstellungsmerkmal schnelle Verlegbarkeit existiert also zunächst gar nicht. Mit einer vollen Einsatzfähigkeit der "Mittleren Kräfte" rechnet das Papier frühestens 2030 - und womöglich noch später. Ein klarer Widerspruch zum Pistorius-Vorhaben, die Bundeswehr in drei bis fünf Jahren kriegstüchtig zu machen.
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    Zu wenig Radhaubitzen für neue Truppe

    Für die "Mittleren Kräfte" werden Hunderte neue Fahrzeuge benötigt. Die Beschaffungsvorhaben tragen Titel wie "zukünftiges System Indirektes Feuer mittlerer Reichweite". Dahinter verbergen sich 168 Radhaubitzen, die das Heer benötigt.
    Eigentlich sollen sie ab 2027 geliefert werden. Doch das wird eng, denn der Vertrag soll frühestens Ende des Jahres unterzeichnet werden, erfuhr Frontal aus Parlamentskreisen. Und: Aus Kostengründen soll auch nur die Hälfte der benötigten Radhaubitzen bestellt werden.
    Sachsen-Anhalt, Klietz: Die Panzerhaubitze RCH 155 des Herstellers Krauss-Maffei Wegmann fährt bei einer Vorführung zur Schießbahn auf dem Truppenübungsplatz bei Stendal.
    Eine neue Radhaubitze RCH 155: Von ihnen bekommt die Bundeswehr deutlich weniger als erhofft. (Archivbild)
    Quelle: dpa

    Stattdessen müssen die "Mittleren Kräfte" weiter die bewährte, aber langsame Panzerhaubitzen 2000 auf Ketten benutzen. Mit schnellen Radpanzern vom Typ Boxer können sie bei der Verlegung an die Ostflanke, die Soldaten sprechen vom "Husarenritt", nicht mithalten. Im schlimmsten Fall würden die Bundeswehr-Soldaten also ohne Artillerie dastehen.

    Eine Panzerbrigade, die nicht wie vorgesehen kämpfen kann

    Auch die Personalplanung schränkt die "Mittleren Kräfte" ein. ZDF Frontal liegt eine interne Meldung zur Panzerbrigade 21 vor. Sie soll nächstes Jahr der erste Großverband der "Mittleren Kräfte" werden. Statt der benötigten 5.853 Soldaten sind nur Dienstposten für 5.000 vorgesehen - mit drastischen Folgen für die Einheit. Die Brigade kann "nicht wie konzeptionell vorgesehen kämpfen, da (...) querschnittlich alle Fähigkeiten reduziert ausgeplant werden mussten", heißt es in der Meldung.

    Die Brigade kann aufgrund der reduzierten logistischen Fähigkeiten nur zeitlich begrenzt für circa vier bis fünf Tage (...) in einem hochintensiven Gefecht bestehen.

    Zustandsbericht Panzerbrigade 21

    Nach weniger als einer Woche hätte die Einheit Russland nichts mehr entgegenzusetzen. Wegen nicht ausreichend vorhandener Aufklärungs- und Pionierfähigkeiten könne man überdehnte Räume nicht beherrschen, heißt es weiter. Einfach ausgedrückt: die Einheit ist lahm und blind. Genau das Gegenteil des eigentlichen Auftrags.
    "Das ist natürlich so, dass wir bis jetzt immer alle Nato-Anforderungen erfüllt haben, und alles dafür tun werden, dass das so bleibt", sagte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums. Die Bundeswehr teilte auf Anfrage mit, dass sie zu Stärken und Anzahl von Fahrzeugen aus "Gründen der operativen Sicherheit" keine Stellung nehmen könne.
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    Offizier warnt vor hohen deutschen Verlusten

    In der Bundeswehr ist die Aufstellung der "Mittlere Kräfte" seit Jahren Thema - und hoch umstritten. Manche Soldaten kritisieren die bisherige Umsetzung, andere lehnen das Konzept rundweg ab. Ein Offizier, der bei der Nato-Battlegroup in Litauen im Einsatz war, schildert ZDF Frontal seine Vorbehalte.
    "Wenn man sich das Gelände in Litauen ansieht, viel Wasser, viel Wald, viele Sümpfe - dann ist das für Radfahrzeuge schwierig. Die geplanten Boxer-Varianten haben so ein hohes Gewicht, dass sie sich zu manchen Jahreszeiten leicht festfahren können. Dann stecken sie im Schlamm fest."
    Auch wie die Bundeswehr die "Mittleren Kräfte" einsetzen würde, bereitet ihm Sorgen. Trotz vergleichsweise geringer Panzerung sollten sie russische Angriffswellen aufhalten, bis die schweren Kräfte der Nato aus ganz Europa nachgerückt seien.

    An vorderster Front schwere russische Panzerverbände aufzuhalten, dazu wären sie nur begrenzt fähig. So ein Kampf würde voraussichtlich hohe deutsche Verluste mit sich bringen.

    Anonymer Bundeswehr-Offizier

    Durch die kritische Suwalki-Lücke verlaufen lediglich zwei Straßen. "Zerstört Russland dort eine Brücke, kann die ganze Versorgung zusammenbrechen. Auf Kette passiert einem das nicht, da bleibt man mobil", so der Soldat.
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    Beschaffung weiterhin zu langsam

    Auch der Sicherheitsexperte Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr sieht "große Fragezeichen" bei dem Projekt "Mittlere Kräfte": "Meines Erachtens ist die abschreckende Wirkung eher gering."
    Ingo Gädechens, Berichterstatter der Unionsfraktion für den Verteidigungshaushalt, sieht auch nach zwei Jahren Ukraine-Krieg keinen Mentalitätswandel bei der Beschaffung: "Die Beamten, die in den Beschaffungsämtern sitzen, wissen ja nicht, wer in zwei Jahren das Sagen hat im Verteidigungsministerium und deshalb wollen sie keine Fehler machen."

    Deshalb läuft der Beschaffungsprozess so schwerfällig weiter wie in der Vergangenheit und damit haben wir natürlich ein Riesenproblem.

    Ingo Gädechens, CDU-Bundestagsabgeordneter

    Mit Blick auf einen möglichen Wahlerfolg Donald Trumps nimmt der Zeitdruck weiter zu. Auf die USA könnte sich die Bundeswehr womöglich nicht mehr bedingungslos verlassen.

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    Florian Neuhann, Brüssel
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