Wie das Rote Kreuz die Arbeit im Ukraine-Krieg erlebt

    Interview

    Hilfseinsatz im Ukraine-Krieg :Wie das Rote Kreuz die Arbeit im Krieg erlebt

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    Das Rote Kreuz muss Neutralität bewahren, um der Aufgabe als Hilfsorganisation nachkommen zu können. Das sei im Ukraine-Krieg eine "Herausforderung", sagt Regionaldirektorin Bauer.

    Einer Ukrainerin wird während eines, vom ukrainischen Roten Kreuz organisierten, Evakuierungsprozesses beim Einsteigen in ein Fahrzeug geholfen.
    Rote-Kreuz-Helfer unterstützen eine Ukrainerin während einer Evakuierung des Dorfes Kutkivka beim Einsteigen in ein Fahrzeug. (Archiv)
    Quelle: laif

    Mit welchen Herausforderungen sieht sich das Rote Kreuz aktuell in der Ukraine konfrontiert? Ariane Bauer ist Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und gehört zum Krisenstab der Hilfsorganisation. ZDFheute schildert sie ihre Erfahrungen.
    ZDFheute: Das Rote Kreuz wurde 1863 gegründet - einer der Grundsätze ist die Wahrung der Neutralität. Wie neutral kann das Rote Kreuz in einem Krieg wie dem in der Ukraine sein?
    Ariane Bauer: In der Tat ist der internationale bewaffnete Konflikt in der Ukraine für uns als Institution, was die Neutralität angeht, eine Herausforderung. Um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen: Neutralität meint nicht, dass wir nicht betroffen sind von dem, was passiert.

    Neutralität ist für uns ein Werkzeug, ein Mittel zum Zweck, um wirklich mit allen Kriegsparteien in Kontakt zu treten und unserer Aufgabe als Hilfsorganisation nachzukommen.

    Ariane Bauer, Regionaldirektorin Eurasien beim IKRK

    Ich kann keine Teams an die Frontlinie schicken, wenn ich nicht weiß, dass beide Seiten diese Teams respektieren und nicht beschießen. Wir können auch keine Kriegsgefangenen besuchen, wenn nicht beide Seiten des Konflikts uns den Zugang gewähren. Wir sind also davon abhängig, dass wir eine Akzeptanz aufbauen, auf allen Seiten eines Konflikts.

    Ariane Bauer
    Quelle: Rotes Kreuz

    ... ist Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK).

    ZDFheute: Und wie kann das Rote Kreuz die Neutralität wahren?
    Bauer: Indem wir sie tagtäglich leben. Wir halten uns aus politischen Diskussionen heraus. Wir haben ein klares Mandat, das auf dem internationalen humanitären Völkerrecht fußt, und daran halten wir uns. Wir zeigen, dass wir wirklich einen Unterschied machen und helfen können, die Situation für die Bedürftigen zu verändern. Das ist der Antrieb.



    ZDFheute: Trotz seiner Neutralität kann das Rote Kreuz im Krieg zur Zielscheibe werden - zum Beispiel von Falschmeldungen. Im März 2022 wurden Vorwürfe laut, das Rote Kreuz würde bei Zwangsevakuierungen von Ukrainern aus Mariupol nach Russland helfen. Welche Folge haben solche Vorwürfe für Ihre Einsatzkräfte vor Ort?
    Bauer: Die Situation hat uns noch lange verfolgt, weil sich diese Botschaften sehr stark bei den Menschen eingeprägt haben. Bei den Ukrainern vor Ort, aber auch auf politischer Ebene. Was ich hier sagen kann: Wir sind extrem frustriert. Wenn man durch so eine Phase der Desinformation gegangen ist, hat man zum Beispiel bei zukünftigen Verhandlungen über Evakuationen im Hinterkopf, dass es wieder zu Falschmeldungen kommen könnte.
    Das ist ein zusätzlicher Risikofaktor, den wir einkalkulieren. Im schlimmsten Fall kann das dazu führen, dass man sich aus gewissen notwendigen Aktivitäten heraushält, weil man weiß, dass man dafür an den Pranger gestellt wird. Das ist natürlich extrem gefährlich, weil es Menschenleben betreffen kann.
    ZDFheute: Ist das schon passiert?
    Bauer: Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich aus Erfahrung spreche. Aber ich weiß, dass das natürlich im Hinterkopf von allen bleibt.
    ZDFheute: Wie sieht die Arbeit vor Ort aktuell aus, worauf liegt der Schwerpunkt?
    Bauer: Die Teams versuchen, die schwierigsten Orte an der Frontlinie zu erreichen und zu verstehen, was für Bedürfnisse die Bevölkerung dort hat. Oftmals sind dort die Ärmsten und die Schwächsten, die zurückbleiben. Wir finden also oft alte Leute, manchmal auch Kinder, und setzen alles daran, ihnen das zu bringen, was ihnen die Situation etwas vereinfacht.
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    ZDFheute: Mit welchen Herausforderungen sind Ihre Einsatzkräfte an der Frontlinie konfrontiert?
    Bauer: Eine große Herausforderung ist das Management der Sicherheit. Wir wollen den Bedürftigsten helfen, die in den schwierigsten Situationen sind und da brauchen wir natürlich Sicherheitsgarantien von den Kriegsparteien.
    Die Realität ist aber auch die, dass sehr viel unexplodierter Sprengstoff in den Straßen und Dörfern herumliegt, wo wir arbeiten. Deshalb müssen wir unsere Teams darauf vorbereiten, wie sie sich in so einem Umfeld verhalten müssen.
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    Kampfmittelbeseitigung in der Ukraine17.01.2023 | 7:42 min
    ZDFheute: Solange der Krieg in der Ukraine weitergeht, werden auch die Einsatzkräfte des Roten Kreuzes vor Ort bleiben. Was hilft den Einsatzkräften, in einer so belastenden und vielleicht auch frustrierenden Lage, weiterzumachen?
    Bauer: Ich glaube, was uns am meisten motiviert, ist, dass wir vor Ort sein und Hilfe leisten können.

    Für mich ist es befriedigender, vor Ort zu sein und so viel wie möglich für die betroffenen Menschen zu tun, statt frustriert aus der Ferne zu sehen, wie keine politischen Lösungen erzielt werden und wie die Menschen weiterhin leiden.

    Ariane Bauer, Regionaldirektorin Eurasien beim IKRK

    Das Interview führte Saadet Czapski aus dem ZDF-Studio Baden-Württemberg.
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