Atomausstieg: Kann Deutschland seinen Strombedarf decken?

    100 Tage nach Atomausstieg:Kann Deutschland seinen Strombedarf decken?

    Jan Schneider
    von Jan Schneider
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    Es wird behauptet, durch den Atomausstieg könne Deutschland seinen Strombedarf nicht mehr selbst decken. Ob das stimmt und was sich bei der Stromversorgung seitdem verändert hat.

    Das Kernkraftwerk Emsland.
    Das Kernkraftwerk Emsland: Zum 15. April wurde die nukleare Stromerzeugung in Deutschland endgültig beendet.
    Quelle: dpa

    Der historische Schritt liegt am Montag genau 100 Tage zurück: Am 15. April gingen die letzten drei Atomkraftwerke Isar 2 (Bayern), Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg) und Emsland (Niedersachsen) endgültig vom Netz. Seitdem wird von manchen gern das Schreckgespenst an die Wand gemalt, Deutschland könne seinen Strombedarf nicht mehr selbstständig produzieren.
    Vertreter von CDU, CSU und der AfD behaupten wiederholt, mit dem Atomausstieg hätte sich die Bundesrepublik bei der Stromversorgung größtenteils abhängig vom Ausland gemacht. Das entspricht jedoch nicht der Wahrheit.

    Zahlendreher bei AfD-Chefin Weidel

    Die CSU etwa geißelt die Energiepolitik der Bundesregierung und beschuldigt die Ampel, sie mache Deutschland in Energiefragen abhängiger vom Ausland. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel stellte Anfang Juli sogar die These auf: "Satte 82 Prozent unseres Strombedarfs müssen unsere europäischen Nachbarn decken."
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    Weidel hat dabei aber vermutlich einen "Bild"-Artikel falsch verstanden, in dem von einer "Strom-Import-Quote" von 82 Prozent die Rede ist. Das soll bedeuten, dass Deutschland an 82 Prozent der Tage des Jahres Strom aus dem Ausland importiert hat. Dieser Wert hat im zweiten Quartal 2023 im Vergleich zum ersten (als die Atomkraftwerke noch am Netz waren) zwar zugenommen, er hat aber an sich keine Aussagekraft über die tatsächlich importierte Strommenge und deren Anteil an der gesamten Stromerzeugung.
    Verrechnet man den tatsächlichen Stromverbrauch in den Monaten nach der Abschaltung (circa 40 Terawattstunden pro Monat) mit den Stromimporten (im Mai 3,5 und im Juni 4,0 Terawattstunden) erhält man eine Versorgung aus dem Ausland zu maximal 10 Prozent.

    Handel auf dem europäischen Strommarkt spart Geld und Emissionen

    Die Bundesrepublik handelt seit Jahrzehnten im Rahmen des europäischen Energiemarktes mit anderen EU-Staaten mit Strom. Die allerseits gewollte Zusammenarbeit der Länder soll ermöglichen, Geld und Emissionen einzusparen. Das heißt: Strom wird sowohl importiert als auch exportiert - und damit innerhalb des Staatenbundes dorthin weitergereicht, wo er benötigt wird.

    Auf dem Strommarkt entscheiden die sogenannten Grenzkosten darüber, welches Kraftwerk hochgefahren wird und wo Energie produziert werden soll. Unter Grenzkosten versteht man dabei die Kosten, die bei einem Kraftwerk für jede weitere produzierte Megawattstunde anfallen. Am geringsten sind diese Kosten bei Wind- und Solarenergie, gefolgt von Atomstrom.

    Im Sommer sinkt wegen der milderen Temperaturen der Bedarf an Strom und zugleich steigt das europaweite Angebot an Solarenergie. Dadurch wird der Preis für Einfuhren in der Regel günstiger. Es spart also bares Geld, in dieser Zeit billigeren Strom aus dem Ausland zu importieren als ihn in teureren Kohle- oder Gaskraftwerken selbst zu produzieren.

    Quelle: ZDF

    Es gibt Zeiten, an denen für Deutschland die Elektrizität von den Nachbarn billiger ist als die hierzulande produzierte. Vor allem Strom aus erneuerbaren Energien wird immer preiswerter im Vergleich zur konventionellen Variante. Ein möglicher Import ist in diesen Fällen also kein Zeichen für eine Abhängigkeit, sondern eine wirtschaftliche Entscheidung.

    Kohle- und Gaskraftwerke könnten mehr Strom produzieren

    Abhängig vom Ausland wäre Deutschland, wenn die Kraftwerke im Land unter Volllast laufen würden und keinen zusätzlichen Strom mehr produzieren könnten. Das ist aber nicht der Fall: Die Daten des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE zeigen, dass die allermeisten Kohlekraftwerke in diesem Jahr nur 20 bis 40 Prozent ihrer maximalen Leistung bringen. Spitzenreiter ist das Bremer Kraftwerk Hastedt mit 52,9 Prozent Auslastung.
    Auch viele Gaskraftwerke könnten weit mehr Strom produzieren, als sie es 2023 getan haben. Deutschland hat seine "Energiesouveränität" durch den Atomausstieg also keineswegs abgegeben.

    Wie sah es vor dem Atomausstieg aus?

    In den ersten drei Monaten 2023 hat Deutschland der Bundesnetzagentur zufolge mehr Strom an die Nachbarn geliefert als importiert. Im Januar lag der Saldo bei einem Export-Überschuss von 4,0 Terawattstunden, im Februar bei 2,8 und im März bei 2,1. Seitdem überwiegt der Import.
    Dass Deutschland im Sommer mehr Strom importiert als exportiert, ist aber kein Alleinstellungsmerkmal für das laufende Jahr. Schon früher, als hierzulande noch ein erheblicher Anteil des Stroms aus Kernenergie erzeugt wurde, zeigte sich in den wärmeren Monaten auch schon ein Import-Überschuss - unter anderem in den Jahren 2010, 2011, 2014, 2019, 2020 und 2021. Allerdings ist auch richtig, dass zum Beispiel 2021 der Saldo nicht dieselbe Höhe erreichte wie 2023.
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    Seit rund 20 Jahren führt Deutschland Jahr für Jahr mehr Strom aus, als es aus anderen Ländern bekommt. Im Jahr 2022 zum Beispiel wurde ein Exportüberschuss von etwa 26 Terawattstunden erzielt.

    Und fehlen die drei Atom-Meiler nun im deutschen Strom-Mix?

    Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme erläutert in seinem Bericht über das erste Halbjahr 2023, dass die weggefallenen Mengen der drei Atomkraftwerke "durch geringeren Verbrauch, verringerte Exporte, gesteigerte Importe sowie den Zubau von Solar- und Windkapazität" kompensiert worden seien.
    Bis zu ihrer Abschaltung am 15. April hatten die drei Meiler in diesem Jahr 6,7 Terawattstunden produziert - also nur etwa 1,3 Prozent des Jahresbedarfs an Strom in Deutschland.

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