Deutschland ausspioniert – Vertrauen verspielt?

Fakten-Box | 7. März 2024

• Abhöraffäre

  

  Russland hat ein internes Gespräch deutscher Luftwaffen-Offiziere veröffentlicht und damit Bundeswehr und Bundesregierung bloßgestellt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach am Wochenende von einer „sehr ernsten Angelegenheit“.
  
  In dem mitgeschnittenen Gespräch diskutierten hochrangige Bundeswehroffiziere mögliche Einsatzszenarien für den deutschen Marschflugkörper Taurus, falls dieser doch an die Ukraine geliefert würde. Unter den vier Offizieren war auch der Chef der Luftwaffe, Generalleutnant Ingo Gerhartz, beteiligt. Die Militärs kommen in ihrer WebEx-Konferenz zu dem Ergebnis, dass eine baldige Lieferung und ein schneller Einsatz nur mit Beteiligung deutscher Soldaten möglich wäre – und dass eine Taurus-Ausbildung ukrainischer Soldaten für einen Einsatz in alleiniger Regie möglich wäre, aber Monate dauern würde.
  
  Die Teilnehmer besprachen verschiedene Details, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. So geht es um konkrete Mengen, die geliefert werden könnten. In den Raum gestellt werden 100 Marschflugkörper, davon 50 in einer ersten Tranche. Es wird auch darüber gesprochen, ob die Kertsch-Brücke zwischen der von Russland annektierten Halbinsel Krim und dem russischen Festland mit Taurus-Raketen getroffen werden könnte.
  
  Die russische Abhöraktion ist nach Angaben von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius durch einen „individuellen Anwendungsfehler“ ermöglicht worden. „Unsere Kommunikationssysteme sind nicht und wurden nicht kompromittiert“, sagte Pistorius zu einem Zwischenbericht des Militärischen Abschirmdienstes. Der russische Geheimdienst habe die 38-minütige Konferenz offenbar über eine offene Verbindung mitschneiden können, die ein Offizier in einem Hotelzimmer in Singapur genutzt habe.
  
  In Singapur habe zu dem Zeitpunkt eine Luftfahrtausstellung unter Beteiligung hochrangiger militärischer Vertreter aus europäischen Partnerstaaten stattgefunden, erklärte Pistorius. Deshalb sei der russische Geheimdienst aktiv gewesen und habe wohl einen „Zufallstreffer im Rahmen einer breit gestreuten Vorgehensweise“ gelandet. Spekulationen zur möglichen Einwahl eines russischen Spions in das Gespräch wies der Verteidigungsminister zurück.
  
  Pistorius versicherte, er habe mit NATO-Partnern gesprochen und keine Verärgerung und keinen Vertrauensverlust in Deutschland festgestellt. Allen NATO-Staaten könnten ähnliche Vorfälle durch individuelle Anwendungsfehler passieren. In den vergangenen Tagen hatte es allerdings aus Großbritannien und Frankreich kritische Stimmen gegeben. In der abgehörten Konferenz wurde etwa darauf verwiesen, dass britische Soldaten in der Ukraine seien, um die Zieldaten für die britischen und französischen Marschflugkörper zu kontrollieren.
  
  Wenn sich bei den laufenden Ermittlungen keine schweren Sachverhalte ergäben, so Pistorius, dann „werde ich niemand meiner besten Offiziere Putins Spiel opfern, um das sehr deutlich zu sagen.“ Er bezeichnete die Abhöraktion als „hybriden Angriff“ Russlands, um Deutschland und den Westen zu spalten. Reaktionen aus Moskau, wonach Deutschland einen Krieg gegen Russland vorbereite, seien „völlig absurd“, sagte der Minister. Der Verteidigungsausschuss des Bundestages wird am Montag zu einer Sondersitzung zusammenkommen.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna
  

  Bildquelle: Kay Nietfeld/dpa

• Hybride Angriffe

  

  Die Abhöraffäre bei der Taurus-Konferenz deutscher Offiziere ist ein Stresstest für die Berliner Politik, das Militär und vielleicht auch für Kontakte zu wichtigen Verbündeten. Unter Hochdruck wird im Militärischen Abschirmdienst (MAD) an Konsequenzen aus der Bundeswehr-Panne gearbeitet. Auf dem Prüfstand sind die Kommunikationstechnik und das Verhalten der Beteiligten, um mögliche Lücken zu schließen, die den Lauschangriff möglich gemacht haben.   
  
  Der Militärgeheimdienst selbst hat die Spionageabwehr erst jüngst wieder gestärkt und in seinem letzten Jahresbericht eingeräumt, eine frühere Entscheidung – die Zusammenlegung der Spionage- und Extremismusabwehr in einer Abteilung – habe sich als „nicht zielführend“ erwiesen. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sei „die Stärkung der Spionageabwehr und Bekämpfung von Spionage und möglicher Sabotage dringlicher als je zuvor“.
  
  Erst im Januar deckte das Auswärtige Amt eine prorussische Desinformationskampagne auf der Plattform X, ehemals Twitter, auf. Mit 50.000 gefälschten Nutzerkonten in deutscher Sprache wurden Unmut über die Bundesregierung und Zweifel an der Ukraine-Hilfe geschürt. Binnen eines Monats wurden über den Jahreswechsel mehr als eine Million deutschsprachige Tweets abgesetzt.
  
  Schon im vergangenen Jahr haben die deutschen Geheimdienste verstärkt vor russischer Spionage und vor sogenannten „hybriden Angriffen“ gewarnt, bei denen Fakten mit Desinformation gemischt werden, um die öffentliche Meinung gezielt zu beeinflussen.
  
  „Wir wissen seit Jahren, dass wir russischen hybriden Angriffen ausgesetzt sind“, sagte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), der Deutschen Presse-Agentur. Offensichtlich gebe es noch Institutionen, die sich darauf nicht eingestellt haben, technisch wie mental.
  
  „Entscheidende Stellen scheinen immer noch nicht im Krisenmodus zu sein. Insofern ist dieser hybride Angriff ein deutliches Signal – auch für diejenigen, die immer noch träumen, dass dies alles nicht wahr sein kann – sich endlich damit zu beschäftigen“, sagte Strack-Zimmermann. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hatte den russischen Lauschangriff am Wochenende als Teil eines „Informationskrieges“ bezeichnet, den Kreml-Chef Putin führe.
  
  Die Luftwaffen-Offiziere nutzten für ihre Webkonferenz die auch in vielen Unternehmen verbreitete Plattform WebEx. Das WebEx der Bundeswehr ist dabei frei für die unterste Geheimhaltungsstufe bis VS-NfD („Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“). Nicht nur die Bundeswehr benutzt WebEx, sondern auch der Bundestag und alle Bundesbehörden.
  
  Militärinsider beklagen, die Verschlüsselungstechnik der Bundeswehr sei in einigen Feldern leider unzureichend. Im Alltag gebe es mitunter gefährliche Schnittstellen hin zu privaten Endgeräten mit Messengerdiensten und Social-Media-Apps. Als wasserdicht gelten dagegen die militärische Kommunikation zwischen den NATO-Gefechtsständen und Kommandostellen sowie Gespräche in abhörsicheren Räumen. Die sichere Behördenkommunikation liegt dabei grundsätzlich in der Federführung des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und des Bundesinnenministeriums.
  
  Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat nach dem russischen Abhörfall die Abwehrbereitschaft der deutschen Geheimdienste betont. „Wir haben unsere Schutzmaßnahmen gegen Spionage und Desinformation weiter hochgefahren“, sagte Faeser den Funke-Zeitungen. Die Bekämpfung der Aktivitäten russischer Nachrichtendienste bleibe ein Schwerpunkt der Spionageabwehr.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

  Bildquelle: zdf

• Russische Spionage

  

  Das Bundesamt für Verfassungsschutz informiert auf seiner Webseite über die strategischen Methoden russischer Nachrichtendienste und erkennt darin eine „vielschichtige Bedrohungslage für Deutschland“. Der militärische Nachrichtendienst GRU, der Auslandsnachrichtendienst SWR und der Inlandsnachrichtendienst FSB „profitieren bei ihren Aktivitäten gegen Deutschland von erheblichen Ressourcen und langjähriger Erfahrung“.
  
  Dabei agieren Angehörige russischer Nachrichtendienste auch unter diplomatischer Tarnung. Seit Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine seien 600 russische Diplomaten europaweit ausgewiesen worden. Im April 2022 erklärte die Bundesregierung 40 russische Diplomaten zu „unerwünschten Personen“.
  
  Laut Informationen des ARD-Politikmagazins „Kontraste“ waren Anfang 2023 mehr als 540 russische Diplomaten in Deutschland akkreditiert. Experten gehen davon aus, dass ein Drittel von ihnen für die russischen Geheimdienste arbeitet. Von einigen weiß man es sicher, weil sie als sogenannte „Residenten“ den Austausch zu deutschen Nachrichtendiensten pflegen.
  
  Im Dezember 2022 wurde ein Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes (BND) wegen des Verdachts der Spionage für Russland festgenommen. Gegen den Mann läuft inzwischen ein Prozess vor dem Berliner Kammergericht. Ihm und einem Komplizen werden schwerer Landesverrat vorgeworfen. Beide sollen geheime Informationen an den russischen Geheimdienst FSB weitergegeben haben.
  
  In Erinnerung ist der massive Cyberangriff auf den Bundestag im Frühjahr 2015. Der Angriff begann per Phishing-Mail. Mehrere Abgeordnete folgten dem Link und öffneten damit einer Schadsoftware die Tür zum Netzwerk des Bundestags. Die Hacker sicherten sich weitreichende Zugriffsrechte und saugten mehrere Gigabyte an Daten ab, darunter Zigtausende E-Mails von Mitgliedern des Bundestags. Hinter dem Anschlag wird die staatliche russische Gruppierung APT28 vermutet.
  
  APT28 ist laut Verfassungsschutzbericht seit 2004 weltweit aktiv. Die Gruppierung betreibe neben Spionageangriffen auch Desinformations- und Propagandakampagnen. Für das Bundesamt für Verfassungsschutz gehört APT28 zu den „aktivsten und gefährlichsten Cyberakteuren weltweit“.
  
  In dem BfV-Jahresbericht wird auch die Gruppierung APT29 gelistet. Ihr Auftrag bestehe vor allem in der „Informationsbeschaffung, insbesondere zu westlichen Sanktionen und westlicher Unterstützung der Ukraine“. Angriffe dieser Gruppe erfolgten hauptsächlich auf westliche Außenministerien.
  
  Der Verfassungsschutz rechnet seit Beginn des Ukrainekriegs mit „aggressiveren Spionageoperationen Russlands“ in Deutschland. BfV-Präsident Thomas Haldenwang erklärte bei der Vorlage des Verfassungsschutzberichts im vergangenen Jahr, die Gefährdungen durch russische Spionageaktivitäten gegen Deutschland hätten sich „nochmals vergrößert“. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) betonte, „Russlands Krieg gegen die Ukraine bedeutet auch für die innere Sicherheit eine Zeitenwende.“
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

  Bildquelle: zdf

• Kein Taurus

  

  In der abgehörten Konferenz deutscher Offiziere ging es auch um die Einsetzbarkeit des Marschflugkörpers Taurus in der Ukraine ohne Beteiligung der Bundeswehr. Auch wenn Luftwaffen-Inspekteur Ingo Gerhartz eine Schulung ukrainischer Soldaten am Taurus-System für möglich hält, bleibt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei seinem Nein. „Ich bin der Kanzler und deshalb gilt das“, sagte Scholz Anfang der Woche bei einem Besuch in Baden-Württemberg.
  
  Der gut fünf Meter lange und 1,4 Tonnen schwere Marschflugkörper, mit dem Ziele in 500 Kilometern Entfernung mit hoher Präzision getroffen werden können, ist zu einem ständigen Diskussionsgegenstand innerhalb der Regierungskoalition geworden. Seit Wochen streiten Ampel-Politiker über die Lieferung des deutschen Taurus, die von der Ukraine für ihre Verteidigung mehrfach gefordert wurde.
  
  Der Kanzler hatte in den vergangenen Tagen mehrfach angedeutet, dass man mit dem Taurus auch Moskau erreichen könne. „Deutsche Soldaten dürfen an keiner Stelle und an keinem Ort mit den Zielen, die dieses System erreicht, verknüpft sein“, sagte Scholz auf einer dpa-Konferenz in Berlin. Die gelieferten Marschflugkörper der europäischen Partner fliegen nur 250 Kilometer weit.
  
  Hinter dem Nein von Scholz steckt seine Befürchtung, dass Deutschland in den Krieg verwickelt werden könnte, sollten die Marschflugkörper russisches Territorium treffen. Deswegen will der Kanzler die Zielerfassung nicht alleine den Ukrainern überlassen. Der Einsatz deutscher Soldaten zur Programmierung der Zieldaten kommt für ihn jedoch nicht in Frage, weder in der Ukraine noch von Deutschland aus.
  
  Der Hersteller des Systems Taurus, das deutsche Unternehmen MBDA, hat nun eine Option eröffnet, den Taurus ohne Beteiligung deutscher Soldaten einzusetzen. Aus technischer Sicht gäbe es keine Probleme bei der Lieferung von Marschflugkörpern an die Ukraine. „Wir können Nutzernationen des Taurus, und hier auch natürlich die Ukraine, vollständig im technischen Umfang mit dem System schulen, so dass unser Kunde, in dem Fall dann auch die Ukraine, allein technisch in der Lage ist, den Taurus zu betreiben und zu bedienen“, sagte der MBDA-Deutschland-Chef Thomas Gottschild.
  
  Das Nein des Bundeskanzlers zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine wird von einer großen Mehrheit der Deutschen unterstützt. In einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sind nur 28 Prozent dafür, dass die Bundeswehr den Taurus für den ukrainischen Abwehrkampf gegen Russland zur Verfügung stellt. 58 Prozent lehnen die Lieferung dieses Waffensystems ab.
  
  Eine Mehrheit der Deutschen lehnt einer Umfrage zufolge die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine ab. 61 Prozent der Befragten befürworteten laut einer am Donnerstag veröffentlichten Befragung für den ARD-"Deutschlandtrend" die Haltung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Im Vergleich zum vergangenen August stieg der Anteil der Ablehnenden demnach um neun Prozentpunkte.
  
  Mit Ausnahme von Grünen und FDP sind die Anhänger aller Parteien mehrheitlich gegen die Lieferung. Für eine Taurus-Lieferung sprechen sich aktuell 29 Prozent der Befragten aus. Mit 62 Prozent ist eine wachsende Mehrheit der Bundesbürger dagegen in Sorge, dass Deutschland direkt in den Krieg Russlands gegen die Ukraine hineingezogen werden könnte. Der Wert ist im Vergleich zur Erhebung im Februar um drei Prozentpunkte gestiegen.
  
  70 Prozent befürchten, dass Deutschland Ziel geheimdienstlicher Aktionen Russlands werden könnte. Dass Deutschland auf Spionageversuche nicht vorbereitet ist, glauben 67 Prozent.
  
  Unverändert offen zeigen sich die Deutschen gegenüber höheren Ausgaben für die Bundeswehr. Mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben und damit das vereinbarte Nato-Ziel zu erreichen, halten 74 Prozent für richtig. Darüber, wie die Ausgaben finanziert werden sollen, herrscht dagegen kaum Einigkeit. 43 Prozent der Befragten bevorzugen Einsparungen in anderen Bereichen, 34 Prozent die Aussetzung der Schuldenbremse. Nur neun Prozent sprechen sich für Steuererhöhungen aus.
  Das Institut Infratest dimap befragte von Montag bis Mittwoch für die ARD 1288 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte. Die Fehlertoleranz wurde mit zwei bis drei Prozentpunkten angegeben.
  
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

  Bildquelle: Reuters