Freiheit nur für meine Meinung – müssen wir wieder streiten lernen?

Fakten-Box | 20. JUli 2023

• Gesellschaftliche Spaltung

  

  Geflüchtete, Corona, „Klimakleber“ – nur drei Themen, bei denen vielen Menschen der Kragen platzt. „Bist du nicht meiner Meinung, dann bist du gegen mich“, scheint die unversöhnliche Stimmung im Land. Familien zerbrechen an politischen Meinungsverschiedenheiten. Streit statt Diskurs. Wie schlimm ist es in Deutschland?
  
  In einer Studie von 2020 kommt die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) zu einem geteilten Ergebnis: Einerseits finden sie keine Hinweise auf eine tiefe Spaltung. Andererseits haben die Polarisierungen an den Rändern zugenommen. Themen, die am meisten für Zoff sorgen, sind der Gegensatz von Arm und Reich, Migrationspolitik und Klimaschutz.
  
  Zwei Drittel der Bevölkerung waren zum Zeitpunkt der Befragung der Ansicht, es gebe wenig oder keinen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Dabei erklären die Regierungskoalitionen regelmäßig die „Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts“ zum Ziel ihrer Politik.
  
  Im Koalitionsvertrag der Ampel vom Dezember 2021 heißt es: „Friedliches Zusammenleben und Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft erfordern, Unterschiede zu achten und divergierende Interessen konstruktiv auszuhandeln. Wir treten Diskriminierung auf allen Ebenen entgegen, organisieren Teilhabe und Repräsentanz.“
  
  Von „Spaltung“ ist häufig die Rede, wenn sich Ungleichheiten auftun. Schon die große Koalition aus Union und SPD nahm im März 2018 den „neuen Zusammenhalt für unser Land“ als Titel für ihren Koalitionsvertrag. Das damalige Versprechen der Regierung Merkel war eindeutig: „Den sozialen Zusammenhalt in unserem Land wollen wir stärken und die entstandenen Spaltungen überwinden. Wir nehmen die Ängste der Menschen ernst und wollen ihnen durch unsere gemeinsame Arbeit umfassend begegnen.“
  
  

  Bildquelle: ard

• Identitätskonflikte

  

  Konflikte wie jene um nationale Zugehörigkeit, Bedrohungsgefühle und fehlende Anerkennung haben in Gesellschaften, nicht nur der deutschen, zu verfestigten Lagern geführt – mit konträren Positionen an beiden Enden des Spektrums. Wissenschaftler der Universität Münster bezeichneten die beiden Gruppen in einer Studie von 2021 als „Verteidiger“ und „Entdecker“.
  
  Beispiel Ausländerfeindlichkeit. Der Blick auf und das Verhalten gegenüber Fremden sei geprägt von unterschiedlichen „Identitätskonzepten“, erklären die Forscher. Die „Verteidiger“ befürworteten ein enges Konzept der nationalen Zugehörigkeit. Aus ihrer Sicht gehören zum eigenen Land nur, wer dort geboren wurde, Vorfahren der ethnisch-nationalen Mehrheit hat und Teil der dominanten Religion ist. Durch Fremde fühlen sie sich bedroht. „Entdecker“ hingegen verfolgen eine offeneres Konzept von Zugehörigkeit, wie es heißt. Vielfalt und verschiedene Lebenskonzepte verstehen sie als Chance.
  
  Die verschiedenen Konzepte seien „aufs engste verbunden mit der unterschiedlichen Wahrnehmung der politisch-gesellschaftlichen Repräsentation». Die sogenannten „Verteidiger“ seien laut Studie unzufriedener mit der Demokratie, fühlten sich marginalisiert und misstrauten politischen Institutionen. Sie neigten zu Verschwörungstheorien; ihre demokratischen Vorstellungen könnten als anti-pluralistisch bezeichnet werden. Bei den „Entdeckern“ verhalte es sich umgekehrt.
  
  Die Forscher schlussfolgern, dass es diese Differenzen in einer Gesellschaft immer geben werde, „und das ist per se auch nicht problematisch“. Denn für eine Gesellschaft sei beides wertvoll und wichtig: soziale Strukturen zu sichern und neue Strukturen aufzubauen. Weil aber der Identitätskonflikt in psychologischen Grundbedürfnissen begründet ist, sei er – im Gegensatz zu eher materiell basierten Konflikten – schwerer verhandelbar. Die Positionen hätten sich verhärtet.
  
  Die Osnabrücker Wirtschaftspsychologin Christel Kumbruck hat vor dem Hintergrund der nach Deutschland kommenden ukrainischen Kriegsflüchtlinge vor einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft gewarnt.
  
  Die Spaltung der Gesellschaft in Flüchtlingshelfer und Flüchtlingsskeptiker habe sich bereits seit 2015 gezeigt, als vermehrt Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien nach Deutschland kamen, schreibt Kumbruck. Die eher weltoffenen, neugierigen, häufig akademisch gebildeten Kosmopoliten unterstützten die Geflüchteten. „Für viele ist das wie eine Art Weltreise, ohne dass sie sich selbst auf den Weg machen müssen.“ Bei den eher auf Sicherheit bedachten Traditionalisten, denen Sesshaftigkeit wichtig sei, überwiege die Angst vor dem Fremden. Sie lehnten Einwanderer, egal aus welchen Gründen diese kämen, eher ab.
  
  Alarmierendes Ergebnis der Studie sei, dass sich die Menschen mit ihren Einschätzungen unversöhnlich gegenüberstünden, betonte Kumbruck. Die Stimmung sei geprägt von Misstrauen, Vorurteilen und erhobenem Zeigefinger auf beiden Seiten. Die Polarisierung werde verschärft durch soziale Ungleichheit, das Gefühl, von der Politik keine Unterstützung zu bekommen, und die Hasskultur in den sozialen Medien.

  Bildquelle: dpa

• Cancel Culture

  

  Der umstrittene Begriff „Cancel Culture“ (englisch: Kultur des Absagens) meint unter anderem die öffentliche Ächtung von Personen oder Unternehmen, die nach Ansicht ihrer Kritiker die falsche politische Meinung haben oder politisch-gesellschaftlich verwerflich gehandelt haben. Im Netz wird zum Boykott von Vorträgen, Verlesungen oder Werken der „gecancelten“ Person aufgerufen. Die Person soll ihre öffentliche Wirkungsmöglichkeiten verlieren.
  
  Öffentlich verbreitet wurde der Begriff 2014 auf Twitter. Unter dem Hashtag #CancelCulture fordern meist linksidentitäre Gruppen seither Veranstaltungs- und Berufsverbote sowie Boykotts von Wissenschaftlern, Publizisten und Künstlern, die ihrer Ansicht nach gegen die Political Correctness verstoßen. Besonders in den USA und in Großbritannien führten Fälle von „Cancel Culture“ für Einzelne zum Jobverlust.
  
  So sah sich der Meinungsseiten-Chef der „New York Times“, James Bennet, im Juni 2020 zum sofortigen Rücktritt genötigt. Er hatte den Kommentar eines republikanischen Senators zu den gewaltsamen Ausschreitungen nach dem Tod des Schwarzen George Floyd zu verantworten. Der Politiker hatte mit seiner Forderung nach einem Militäreinsatz gegen „Black Lives Matter“-Demonstranten Empörung auslöst.
  
  In Großbritannien musste der Lehrer Will Knowland im Eton-College seinen Platz am Pult räumen: Er hatte das Pro und Contra der Gender-Theorien thematisiert und aus seiner Position keinen Hehl gemacht, dass es biologische Unterschiede von Mann und Frau gibt. Die linke Feministin und Autorin Suzanne Moore verließ den „Guardian“, weil sie sich in der Auseinandersetzung mit der Transgender-Szene von der Chefredaktion im Stich gelassen fühlte.
  
  Unter dem Stichwort “Cancel Culture“ werden auch in Deutschland Einschränkungen der Meinungsfreiheit diskutiert. So verhinderten kleine Gruppen Auftritte und Vorträge von Thomas de Maizière (CDU), Christian Lindner (FDP) sowie des Ökonomen Bernd Lucke (früher AfD). Studenten griffen Professoren an wie Herfried Münkler, Jörg Baberowski und Susanne Schröter, deren Positionen im linken Spektrum aneckten, und forderten ihre Absetzung. Ein Beitrag des Kabarettisten Dieter Nuhr für eine Wissenschaftskampagne wurde von der Deutschen Forschungsgesellschaft auf politischen Druck hin zeitweilig gelöscht.
  
  Ein Teil der Linken kritisiert die Rede von der „Cancel Culture“ und bezweifelt, ob es eine Verbotskultur wirklich gibt, oder nicht diejenigen, die sie beschwören, eher um den Verlust ihrer Meinungsführerschaft fürchten. Die Autorin Samira El Ouassil spricht von einem rechtspopulistischen „Kampfbegriff“. Andere halten den Begriff für zu vage, damit würden sehr unterschiedliche Vorfälle in Verbindung gebracht. Linke Intellektuelle wie etwa Noam Chomsky sehen die Meinungsfreiheit massiv bedroht.

  Bildquelle: Patrick Schmetzer/diemilitanteveganerin

• Gendern

  

  Seit Jahren wird in Deutschland diskutiert, ob – und wenn ja, wie – die männlichen Formen in der Sprache durch weiter gefasste Begriffe ersetzt werden können oder sollten – um zum Beispiel Frauen offensiver einzubeziehen. Das sogenannte Gendersternchen wie bei „Lehrer*innen“ ist eine Möglichkeit. Manche setzen an die Stelle auch einen Doppelpunkt oder einen Unterstrich. In der gesprochenen Sprache und im Fernsehen oder Radio äußert sich das dann als kurze Sprechpause mit Betonung des Binnen-„i“.
  
  Auch der Rat für deutsche Rechtschreibung beschäftigt sich mit dem Thema. In dem Gremium war die jüngste Sitzung zum geschlechtergerechten Schreiben sehr kontrovers, wie der Ratsvorsitzende Josef Lange danach berichtete. Der Rat kam auch deshalb zusammen, weil es im Vorfeld sehr viele Fragen von Behörden und Schulen gab, wie sie mit dem Thema Gendern umgehen sollen.
  
  Im Ergebnis stuft der Rat für deutsche Rechtschreibung Genderzeichen im Wortinneren nicht als „Kernbestand“ der deutschen Orthografie ein. Jedoch benennt der Rat das Gendern im Wortinneren in einer neuen Ergänzung zum Thema Sonderzeichen. Ratsvorsitzender Lange sagte der Deutschen Presse-Agentur zur Einordnung, dass man damit das gesellschaftliche Phänomen an sich beschreiben wolle. Die Zeichen vermittelten „übersprachlich aufgeladen“, dass damit alle Geschlechtsidentitäten gemeint seien.
  
  Lange machte zudem aus seiner Sicht klar: Es handele sich beim Gendern nicht um eine orthografische, sondern um eine gesellschaftspolitische Diskussion. Die Spannungen könne man nicht mit orthografischen Mitteln auflösen. Der Rat will nun den staatlichen Stellen – in Deutschland sind die Kultusministerkonferenz und das Bundesinnenministerium beteiligt – vorschlagen, das Amtliche Regelwerk durch den Abschnitt Sonderzeichen zu ergänzen. Erst mit Billigung der staatlichen Stellen gibt es eine Bindungswirkung. Es folgt jetzt voraussichtlich zunächst ein Anhörungsverfahren, im Dezember könnte final beschlossen werden.
  
  Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) schloss noch vor dem Ende der Ratssitzung eine Pflicht zum Gendern in Bayern kategorisch aus. „Jeder soll es persönlich halten, wie er es will! Aber für Bayern gilt: Eine Pflicht zum Gendern wird es im Freistaat definitiv nicht geben...“, schrieb Söder am Freitag auf Twitter. Söder und die CSU machen seit geraumer Zeit Wahlkampf mit dem Thema.
  
  CDU-Chef Friedrich Merz positionierte sich auf einem CDU-Parteitag 2022 indirekt gegen das Gendern im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und sagte: „Universitäten, meine Damen und Herren, und öffentlich-rechtlicher Rundfunk sind keine Volkserziehungsanstalten.“
  
  Auch in der Wirtschaft und bei Gerichten ist das Thema Gendern längst angekommen. So beschäftigte sich zum Beispiel das Landgericht Ingolstadt im vergangenen Jahr mit einer Klage gegen einen Leitfaden für geschlechtergerechte Sprache beim Autobauer Audi.

  Bildquelle: ard

• LGBTQia+

  

  Die Kurzform für alle Geschlechter und Geschlechtsidentitäten hat seit ihrer Anwendung immer wieder Ergänzungen erfahren. Es begann im englischen Sprachraum mit „LGB“, einem Zusammenschluss von Lesbians, Gays und Bisexuals im Kampf gegen Diskriminierungen. Transgender-Personen geht es aber nicht um sexuelle Orientierung, sondern um ihre Geschlechtsidentität. Mit ihnen wurde das „T“ ergänzt. „LGBT“ existiert seit 2015 auch als Top-Level-Domain für Webseiten.
  
  Die Kampagne „UN Free & Equal” der UN-Menschenrechtskommission gebrauchte in ihrem jährlichen Bericht noch 2016 die Abkürzung „LGBT“, ergänzte aber im Folgejahr den Buchstaben „i“ für Intersexuelle, also Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig weiblich oder männlich sind. Andere Organisationen hatten zu diesem Zeitpunkt aber bereits das „Q“ der Abkürzung hinzugefügt für „queere“ Personen. „queer“ ist eine Sammelbezeichnung, die weithin gebräuchlich, aber nicht eindeutig definiert ist.
  
  Spätestens jetzt geriet die Buchstabenreihenfolge durcheinander: LGBTIQ oder LGBTQI sollten beim Googlen mit Asterisk gesucht werden, um nicht einen Teil der zahlreichen Informationen zu übersehen.
  
  Das „A“ in der Abkürzung steht für „asexuell“ oder „agender“. Es umfasst Personen, die sich als „ungeschlechtlich“ definieren. Die Gender-Forschung spricht auch von nonbinärer Geschlechtsidentität.
  
  Da mit der Buchstabenabfolge möglichweise immer noch nicht alle Menschen einbezogen sind, wird das Pluszeichen als Platzhalter angefügt. Auch diese Schreibweise ist uneinheitlich. Die Bundesregierung verwendet auf ihrem „Regenbogenportal“ die Abkürzung mit Sternchen „LGBTIQ*“. Die EU-Kommission lässt den Asterisk weg und schreibt in ihrer „Strategie für die Gleichstellung 2020-2025“ nur von „LGBTIQ“.

  Bildquelle: dpa/Eva Manhart