Preise steigen, Wirtschaft schrumpft – wird Deutschland immer ärmer?

Fakten-Box | 22. Juni 2023

• Inflation

  

  Die Inflationsrate wird als Veränderung des Verbraucherpreisindex zum Vorjahresmonat gemessen. Sie berücksichtigt die Preisveränderung von 700 Güterarten, die sämtliche privat gekauften Waren und Dienstleistungen repräsentieren.
  
  In Deutschland lag die Inflationsrate im Mai 2023 bei 6,1 %. Im März und April 2023 hatte die Inflationsrate noch bei über 7 % gelegen (März: 7,4 %; April: 7,2 %). „Die Inflationsrate hat sich damit weiter abgeschwächt, bleibt jedoch trotzdem auf einem hohen Niveau“, sagt Ruth Brand, Präsidentin des Statistischen Bundesamtes, und ergänzt: „Deutlich geringer fiel im Mai der Preisauftrieb bei Energie gegenüber dem Vorjahresmonat aus. Die Teuerung der Energieprodukte lag im Mai 2023 bei 2,6 %. Damit hat sie sich merklich abschwächt (April 2023: 6,8 %) und liegt deutlich unterhalb der Gesamtteuerung.
  
  Die Preise für Nahrungsmittel verteuerten sich im Mai 2023 um 14,9 % gegenüber dem Vorjahresmonat. Der Preisauftrieb hat sich zwar etwas abgeschwächt (April 2023: 17,2 %). Nahrungsmittel bleiben jedoch mit Abstand der stärkste Preistreiber unter den Güterbereichen.
  
  Für die zukünftige Preisentwicklung kann laut der Nachrichten-Webseite „Business Insider“ auf günstigere Nahrungsmittelpreise gehofft werden. Den Daten des Statistischen Bundesamtes folgend waren die Erzeugerpreise für landwirtschaftliche Produkte im April 2023 um 6,5 % niedriger als im April 2022. Eine Trendwende zu deutlich sinkenden Nahrungsmittelpreisen bleibe aber ungewiss.
  
  Die Teuerungsrate wird stark beeinflusst durch Güter, die jahreszeitlich besonders starken Preisschwankungen unterliegen. Rechnet man zum Beispiel Energie und Nahrungsmittel raus, sprechen Experten von der „Kerninflation“. Sie gilt als Ausdruck des nachhaltigen Inflationsdrucks und bereitet wegen ihres hohen Niveaus von über 5 % besondere Sorgen.
  
  Die Inflationsrate auf ein Zielniveau von 2 % zu führen, ist eine der Aufgaben der Europäischen Zentralbank EZB. Sie erhöhte deshalb den Leitzins in ihrer jüngsten Zinssitzung in der vergangenen Woche um einen Viertelprozentpunkt. Wegen der hartnäckig hohen Inflation gilt es laut EZB-Direktorin Isabel Schnabel, den strafferen geldpolitischen Kurs mit Weitsicht voranzutreiben. Die Zinsen müssten weiter steigen.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

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• Gierflation

  

  „Gierflation” bezeichnet die ungerechtfertigte massive Preiserhöhung eines Produkts, die nicht durch die gestiegenen Kosten für Strom, Gas oder Vorprodukte zu rechtfertigen ist.
  
  Mit steigender Inflation beschuldigten sich Hersteller und Händler gegenseitig, die Preise zu treiben. Edeka-Chef Markus Mosa sprach laut Handelsblatt sogar von der „Gier“ der Hersteller. Die wichtigsten Lebensmittel-Einzelhandelsunternehmen in Deutschland wie Aldi, Edeka, Rewe und die Schwarz-Gruppe (Kaufland, Lidl) sind nicht börsennotiert, weshalb sich auch die Rohertragsmarge nicht ohne Weiteres ermitteln lasse.
  
  Laut der Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, hätten die meisten Unternehmen „den Vorteil genutzt, die höheren Kosten völlig auf die Kunden abzuwälzen. Und einige von ihnen haben die Preise über den bloßen Kostendruck hinaus erhöht“, kritisierte Lagarde im Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments.
  
  Dieser Vorwurf wird durch eine Studie des Kreditversicherers „Allianz Trade“ gestützt. Der Vergleich des aktuellen Nahrungsmittelpreisanstiegs mit dem eigentlich zu erwartenden Preisanstieg durch die Inflation kann etwa 10 % des Preisanstiegs nicht erklären.
  
  Das Bundeskartellamt verdächtigt Unternehmen der illegalen Preisabsprachen im Zuge der hohen Inflation. „Wir sehen tatsächlich Branchen, wo Preise ganz auffallend gleichförmig nach oben gehen – teils um dieselben Prozentsätze“, sagte Behördenchef Andreas Mundt der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Das Kartellamt sei „eng dran. Es kann sein, dass Verfahren folgen werden“. Ausdrücklich ausgeschlossen habe Mundt lediglich den Tankstellensektor, da das Kartellamt dort bereits eine Sektoruntersuchung abgeschlossen und keine Hinweise auf verbotene Absprachen gefunden hätte.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

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• Warnung der Sozialverbände

  Sozialverbände befürchten eine Zunahme der existenzbedrohenden Armut, fordern staatliche Maßnahmen – und warnen vor gesellschaftlicher Spaltung.
  
  „40 Prozent der Haushalte haben überhaupt keine Rücklagen und können auch keine bilden”, sagte Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. In den Beratungsstellen werde klar, dass einige nun die laufenden Kosten aus Krediten deckten. „Das ist natürlich fatal.”
  
  Schneider hält die Teuerungskrise für weit schlimmer als die Corona-Pandemie. Damals hätten 15 Prozent der Beschäftigten wegen Kurzarbeit massive Einbußen gehabt, sagt der Sozialexperte. „Jetzt sind alle betroffen, und die unteren 40 Prozent in einer Art und Weise, dass sie nicht mehr ihre Rechnungen bezahlen können.”
  
  Aus Sicht des Diakonie-Präsidenten Ulrich Lilie könnte die aktuelle Preiskrise zu Großdemonstrationen ähnlich denen der sogenannten Gelbwesten in Frankreich in den Jahren 2018 und 2019 führen. Derzeit seien rund 10 bis 15 Millionen Menschen in Deutschland bedroht, durch die steigenden Preise weiter in existenzgefährdende Armut abzurutschen, sagte Lilie im Deutschlandfunk. Wenn diese Menschen wieder erleben, dass „sie am Ende die Zeche bezahlen, dann wäre das ein tiefgehender Riss in unserer Gesellschaft.”
  
  Die hohe Inflation hat auch die Lohnsteigerungen in Deutschland mehr als aufgezehrt. Zwar stiegen die Entgelte durchschnittlich um 5,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal, gleichzeitig sind aber die Verbraucherpreise in den ersten drei Monaten des Jahres um 8,3 Prozent gestiegen. Damit betrug der durchschnittliche Reallohnverlust 2,3 Prozent, wie das Statistische Bundesamt berichtet.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

• Wirtschaftswachstum

  

  Die Industriestaaten-Organisation OECD sieht die Weltwirtschaft auf einem langsamen Erholungskurs, der Ausblick für Deutschland bleibt aber verhalten. Nur drei andere OECD-Mitgliedsstaaten schnitten schlechter ab. Die Weltwirtschaft solle 2023 um 2,7 Prozent wachsen, in der Eurozone um 0,9 Prozent, aber Deutschlands Wirtschaft werde voraussichtlich stagnieren. 
  
  Die deutsche Wirtschaft kommt nach Ansicht des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung IMK in diesem Jahr nicht aus der Rezession heraus und schrumpft 2023 um 0,5 Prozent. „Im kommenden Jahr gewinnt die Konjunktur dann wieder etwas stärker an Fahrt, das Bruttoinlandsprodukt dürfte um durchschnittlich 1,2 Prozent zulegen“, erklärte das gewerkschaftsnahe Institut der Hans-Böckler-Stiftung.
  
  Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geht sogar von einer stärkeren Erholung aus. Den Berechnungen seines Ministeriums zufolge könnte die deutsche Wirtschaft 2024 um 1,6 oder vielleicht auch 1,9 Prozent zulegen, „langsam also wieder normalere Werte“, sagte der Grünen-Politiker jüngst beim Ostdeutschen Wirtschaftsforum.
  
  Das werde allerdings schwierig werden, prognostiziert die OECD, denn die Inflation sei weiterhin fest verankert, die Verschuldung hoch und das Produktionspotenzial niedrig.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

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• Ungeduld der Industrie

  

  Der Präsident des Industrieverbandes BDI, Siegfried Russwurm, hat vor Schaden für den Standort Deutschland gewarnt. Anfang der Woche sagte Russwurm, immer mehr deutsche Unternehmen bis weit in den Mittelstand hinein beschäftigten sich damit, Teile ihrer Wertschöpfung aus Deutschland abzuziehen. Deutschland falle im internationalen Wettbewerb zurück. Das Investitionsverhalten habe sich stark verschlechtert. Firmen seien mit den aktuellen Strompreisen oder Energiepreisen im globalen Wettbewerb zunehmend überfordert.
  
  Russwurm fordert: Die Bundesregierung muss nun liefern. Liefern, um Abwanderungen von Unternehmen ins Ausland zu verhindern – und damit Jobs zu erhalten. Die Unternehmen seien im internationalen Vergleich durch hohe Energiepreise, einen Mangel an Fachkräften sowie hohe Kosten für Energiewende und Digitalisierung belastet. Dazu komme eine wirtschaftliche Stagnation in Deutschland.
  
  Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat Kritik an der Industriepolitik der Bundesregierung zurückgewiesen. Der Vizekanzler verwies auf «erhebliche», milliardenschwere Investitionen in neue Technologien, die viele neue Jobs brächten. Habeck nannte als große Investitionen in Deutschland etwa Vorhaben der Unternehmen ZF Friedrichshafen und Wolfspeed im Saarland in Mikroelektronik sowie die Ankündigung des US-Chipkonzerns Intel, der für 30 Milliarden Euro Fabriken in Magdeburg bauen will. Die Bundesregierung hatte dazu ihre Förderung aufgestockt.
  
  Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte mehrfach eine neue „Deutschland-Geschwindigkeit“ bei Planungs- und Genehmigungsverfahren hervorgehoben. Russwurm hielt dem entgegen, dass davon größtenteils nichts zu sehen sei. Die Politik müsse aber die richtigen Rahmenbedingungen setzen, und zwar schnell. Das „Delta” zwischen Ambitionen und Umsetzungspraxis werde täglich größer, kritisierte Russwurm. „Einiges läuft komplett in die falsche Richtung.”
  
  Auch die Familienunternehmen fordern von der Politik weniger Regulierung. Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen und Politik, forderte unter anderem schnellere Visaverfahren für ausländische Fachkräfte und eine Unternehmenssteuerreform in mehreren Stufen. Außerdem müsse der Staat Genehmigungszeiten verkürzen. Wichtig seien Investitionsanreize. Die Bundesregierung habe den Ernst der Lage noch nicht erkannt, so Kirchdörfer.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

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• Insolvenzzahlen

  

  Inmitten von Rezession und steigenden Zinskosten nehmen die Firmenpleiten in Deutschland spürbar zu. Im ersten Quartal erhöhte sich die Zahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 18,2 Prozent, wie das Statistische Bundesamt vergangene Woche mitteilte.
  
  Der Vorsitzende des Berufsverbandes der Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID), Christoph Niering, erklärt: „Derzeit sehen wir in unserer täglichen Arbeit einen erhöhten Beratungsbedarf, insbesondere bei der Baubranche, den Automobilzulieferern und dem stationären Einzelhandel, die nach wie vor mit den erhöhten Zinsen und dem veränderten Konsumverhalten kämpfen.“
  
  Der negative Trend bei den Firmenpleiten könnte sich fortsetzen. Darauf deutet die Entwicklung bei den beantragten Regelinsolvenzen hin, die im Mai um 3,1 Prozent zum Vorjahresmonat zunahmen. Im April hatte es bereits ein Plus von 4,8 Prozent gegeben.
  
  Quellen:  Red. / dpa / reuters / afp / ap / epd / kna

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