Stecknadel im Mittelmeer: Die vergessene Insel Lampedusa

    Flüchtlingskrise in Europa:Lampedusa: Die vergessene Insel im Mittelmeer

    von Julian Degler und Barbara Lueg, Rom
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    Lampedusa ist wie kein anderer Ort zum Sinnbild für die Migrationskrise geworden. Während täglich neue Geflüchtete ankommen, fühlen sich die Einwohner im Stich gelassen.

    Flüchtlinge kommen am La Restinga Hafen an, nachdem sie gerettet wurden, während sie evrsuchten die Insel El Hierro an der spansichen Küste zu erreichen.
    Laut der Vereinten Nationen sind geschätzt 120 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Auch auf der kanarischen Insel El Hierro kommen derzeit viele Boote an.20.06.2024 | 1:18 min
    Nur 190 Kilometer trennen die Küstenstadt Sfax in Tunesien von der Insel Lampedusa. Trotz extremer Lebensgefahr treten viele Asylsuchende die Überfahrt über das Mittelmeer in oft untauglichen Booten jetzt im Sommer besonders oft an. Italien ist eines der Länder, das von der Fluchtbewegung aus Afrika Richtung Europa extrem betroffen ist. 
    Die Insel im Mittelmeer ist und bleibt der Sehnsuchtsort für viele Flüchtende. Laut italienischem Innenministerium sind seit Beginn bis Mitte Juni dieses Jahres bereits mehr als 23.000 Boots-Ankömmlinge in Italien registriert worden.
    Flüchtlingsansturm auf Lampedusa
    Seit Beginn des Jahres ist die Zahl der Bootsmigranten auf Lampedusa wieder in die Höhe geschnellt. Die kleine Insel im Mittelmeer ist dem Ansturm kaum gewachsen. 05.04.2023 | 2:09 min

    Lampedusa: Das Tor nach Europa

    3. Oktober 2013: Kein Mond in Sicht, der Himmel dunkel. 500 Asylsuchende blicken zusammengepfercht in eine schwarze Nacht. Frauen, Männer und Kinder aus Afrika treiben hilflos in einem Fischerboot auf dem Mittelmeer. Lampedusa, ihr Tor nach Europa, ist nur noch einen Kilometer entfernt. Um die Küstenwache auf sich aufmerksam zu machen, zünden sie Decken an.
    Doch das Feuer gerät außer Kontrolle und wird zur tödlichen Falle. Die meisten können nicht schwimmen. Mindestens 368 Menschen sterben kurz vor ihrem Ziel im Meer. Die Katastrophe an diesem Tag löst weltweites Entsetzen aus. "Sie hatten keine Chance. Sie kamen hierher in der Hoffnung auf eine Zukunft, die ihnen entrissen wurde in diesem Moment", sagte Pietro Bartolo, der Inselarzt, der die Überlebenden damals behandelte, der Zeitung "Die Welt".

    Lampedusa ist Sinnbild für die Migrationskrise

    Lampedusa, einst bekannt als Urlaubsparadies für Touristen mit weißen Sandstränden und klarem Wasser, ist in den vergangenen Jahrzehnten wie kein anderer Ort auf der Welt zum Symbol der Migrationskrise geworden. Adama Bangura kam letzten September mit ihrem Mann im Hafen der Insel an. Lampedusa hatte gerade den Notstand ausgerufen, weil binnen weniger Tage rund 8.500 Menschen angekommen waren - das Erstaufnahmelager aber nur Kapazitäten für 400 Personen hat.

    Was kann ich sagen, es war nicht leicht. Es war sehr schwierig. Wir danken Gott, dass wir überlebt haben und in Sicherheit sind, aber es war sehr riskant, den ganzen Weg. Es gab kaum Wasser, kaum zu Essen.

    Adama Bangura, Geflüchtete aus Sierra Leone

    Migration über Tunesien
    :Darum kommen so viele Menschen nach Italien

    Im Moment kommen besonders viele Menschen von Tunesien aus nach Italien. Warum treten gerade jetzt so viele den gefährlichen Weg über das Mittelmeer an?
    von Alice Pesavento
    Flüchtlinge auf Boot im Mittelmeer
    mit Video
    Die Fluchtroute, die Bangura und ihr Mann nach Europa wählten, zählt zu den gefährlichsten weltweit. Allein im letzten Jahr haben mindestens 3.000 Menschen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, ihr Leben verloren. Und erst kürzlich hat das Rettungsschiff "Geo Barents" von "Ärzte ohne Grenzen" elf Leichen vor der Küste geborgen. Filippo Mannino, der Bürgermeister Lampedusas, erklärte, dass die Toten vor der EU-Wahl einer Ohrfeige ins Gesicht Europas gleichkämen, das zu lange die Augen vor dem Problem verschlossen habe.
    Eine Karte mit der italienischen Insel Lampedusa

    So viele Menschen wie noch nie auf der Flucht

    Denn laut eines aktuellen Berichts des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) waren im Jahr 2023 weltweit über 117 Millionen Menschen auf der Flucht vor Verfolgung, Konflikten, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen - alle auf der Suche nach einem besseren Leben in Frieden, Freiheit und Sicherheit. Ein neuer Rekordwert, der seit Jahren ansteigt.
    Auf dem Bild ist ein Boot mit geflüchteten Personen auf dem Mittelmeer zu sehen.
    Kaum ein Thema spaltet Europa so sehr wie die Migration. 2015 herrschte Willkommenskultur, seitdem schwenkt die EU zu einem härteren Umgang mit Geflüchteten.16.05.2024 | 45:19 min

    Von der Politik im Stich gelassen

    Im Hafen von Lampedusa schaukeln derweil die Fischerboote. In einer Bar trinken Inselbewohner einen Kaffee. Der Himmel ist knallblau. Inselidylle? Mitnichten. Lampedusa leidet seit Jahrzehnten unter der schwierigen Logistik, die die kleine Insel mit 6.000 Einwohnern heillos überfordert. Von der Politik fühlen sie sich hier im Stich gelassen, wie Pina Bonadonna, die in Kiel aufgewachsen ist und seit ein paar Jahren auf der Insel lebt, erzählt.

    Die Infrastruktur auf Lampedusa ist erschöpft

    Die Infrastruktur scheint der hohen Zahl an Hilfs- und Sicherheitskräften, die das Bild auf der Insel prägen, nicht gewachsen. Es fehle den Einheimischen an freien Plätzen in Flugzeugen, die genutzt werden, um Mitarbeiter von Hilfsorganisationen zu transportieren, wie Bonadonna berichtet. Die Einwohner wünschten sich außerdem eine bessere medizinische Versorgung. Die Boote, mit denen die Insel angesteuert wird, verstopften den Hafen oder würden versenkt. Zum Nachteil der Fischer. Der Wunsch nach Anerkennung ist groß:

    Die Lampedusani haben immer Menschen aufgenommen, angenommen und erste Hilfe geleistet. Deshalb verstehe ich nicht, warum man diese Menschen nicht einfach mehr unterstützen kann, in dem, was sie sowieso schon ihr Leben lang gemacht haben.

    Pina Bonadonna, Einwohnerin Lampedusa

    Meloni bei PK neben Albaniens Ministerpräsident Edi Rama
    Die italienische Ministerpräsidentin Meloni möchte Menschen, die in der EU Asyl suchen, außerhalb der EU unterbringen. Dort sollen die Asyl-Chancen geprüft werden. 05.06.2024 | 1:38 min
    Heute am Weltflüchtlingstag wird auf Lampedusa die anfängliche Willkommenskultur, die "accoglienza", vom Gefühl vieler Einwohner überschattet, vergessen zu werden. Die Wut ist groß. Und auf der Insel hat nun die Urlaubssaison begonnen.
    Barbara Lueg und Julian Degler berichten aus dem ZDF-Auslandsstudio Rom

    Debatte über Abschiebung
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    von Philipp Dietrich
    Polizeibeamte begleiten einen Afghanen auf dem Flughafen in ein Charterflugzeug

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