Ärzte ohne Grenzen sehen in Gaza katastrophale Situation

    Interview

    Ärzte ohne Grenzen im Einsatz:"Kein Ort ist wirklich sicher in Gaza"

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    Edward Chu war für die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" im Kriegsgebiet des Gazastreifens. Im ZDFheute-Interview spricht er über einen Einsatz in ständiger Lebensgefahr.

    Eine palästinensische Frau reagiert vor einem zerstörten Gebäude im Flüchtlingslager Al-Maghazi im Zentrum des Gazastreifens, aufgenommen am 17.01.2024
    Eine Frau vor einem zerstörten Gebäude im Flüchtlingslager Al-Maghazi im Zentrum des Gazastreifens.
    Quelle: AFP

    ZDFheute: Als Notfallmediziner waren Sie bis vor wenigen Tagen für die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" im Gazastreifen. Welche Eindrücke haben sich Ihnen am stärksten eingeprägt?
    Edward Chu: Nicht über die minimalste Sicherheit zu verfügen, um sich um die Patientinnen und Patienten kümmern zu können, ist etwas, das ich persönlich noch nie erlebt habe.
    Ein Beispiel von vielen: In der Nacht, bevor ich meine geplante Arbeit in der Notaufnahme des Nasser-Krankenhauses in Chan Junis aufnehmen sollte, schlug ein Geschoss in der dortigen Entbindungsstation ein. Zum Glück ist es nicht explodiert. Das hätte verheerende Folgen gehabt.
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    Einen vielleicht noch schmerzhafteren Eindruck hinterlässt die hohe Zahl an Frauen und Kindern, die wir in einem von uns fertig eingerichteten Hospital in Rafah behandeln müssen.

    Diese Menschen haben teils verheerende Verletzungen erlitten - aber immerhin das Glück, überlebt zu haben. Jede Person, die einen Bombenangriff überlebt hat, ist gleichbedeutend mit vielen anderen, die währenddessen gestorben sind.

    ZDFheute: Welche Art von Schutzräumen gibt es für Zivilisten, Helfer?
    Chu: Kein Ort ist wirklich sicher in Gaza. In einer unserer Unterkünfte etwa wurden drei Mitarbeitende von "Ärzte ohne Grenzen" verletzt und ein Kind eines Mitarbeiters wurde getötet, als ein Projektil in das Gebäude einschlug, in dem sie wohnten.

    Dr. Edward Chu von Ärzte ohne Grenzen
    Quelle: privat

    … ist ein Notarzt aus den USA. Der 49-Jährige arbeitet seit 2016 für „Ärzte ohne Grenzen“ (Médecins Sans Frontières, MSF) als medizinischer Berater für Notfallmedizin. Für MSF war Chu seither unter anderem in der Zentralafrikanischen Republik, im Südsudan, in der Demokratischen Republik Kongo, in Kamerun und in der Ukraine im Einsatz.

    ZDFheute: Nach Angaben der Vereinten Nationen sind zwei Millionen Menschen vom Krieg im Gazastreifen betroffen. Worauf konzentrieren sich die "Ärzte ohne Grenzen" vor allem?
    Chu: Unsere Teams kümmern sich im Süden von Rafah um die Versorgung von Schwangeren, Kindern, chronisch Kranken und natürlich um Menschen, die bei Bombenangriffen verletzt wurden.

    Die öffentlichen Krankenhäuser sind so dermaßen überfüllt, dass Verletzte nicht operiert werden können, weil es keinen Platz gibt, um sie nach der Operation im Krankenhaus zu behalten.

    Im Hospital in Rafah mit derzeit 60 Betten nehmen wir auch Patientinnen und Patienten dieser Kliniken auf, wenn die Möglichkeit besteht.
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    ZDFheute: Wie viele Helferinnen und Helfer von "Ärzte ohne Grenzen" sind derzeit im Gazastreifen tätig?
    Chu: Wir haben dort derzeit um die 20 internationale Mitarbeitende im Einsatz. Sie kommen aus Frankreich, Spanien, Deutschland oder Belgien. Sie arbeiten mit vielen palästinensischen Kolleginnen und Kollegen zusammen, die ebenfalls für "Ärzte ohne Grenzen" tätig sind.
    ZDFheute: Es gibt zahlreiche Berichte, dass es im Gazastreifen an fast allem Lebensnotwendigen mangelt. Wie ist Ihr Eindruck?
    Chu: Die humanitären Hilfsgüter, die in den Gazastreifen gelangen, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es kommen zwar einige Lieferungen durch, aber von umfangreicher Hilfe kann nicht die Rede sein.

    Die Infrastruktur des Gazastreifens ist zerstört, die Menschen leben in behelfsmäßigen Unterkünften aus Plastik und Holz, ohne Heizung bei Regen und Kälte. Es werden zwar einige Lebensmittel und Wasser verteilt, aber die Menschen sind verzweifelt.

    Sie müssen täglich für Essen und Trinkwasser anstehen. In Rafah etwa werden zwar einige Lebensmittel verkauft, aber sie sind für viele Menschen zu teuer geworden. Und in Rafah sind die Bedingungen noch vergleichsweise gut. Wegen der anhaltenden Bombenangriffe und der aktiven Kämpfe ist der Transport von Hilfsgütern in den Norden extrem gefährlich.
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    ZDFheute: Als Experte für Notfallmedizin arbeiten Sie in zahlreichen Kriegs- und Konfliktregionen der Welt. Wie ordnen Sie das, was Sie im Gazastreifen erlebt haben, im Vergleich zu anderen Einsätzen ein?
    Chu: Das Besondere an der Notlage dort ist die hohe Zahl an Betroffenen und die Tatsache, dass die Menschen keine Möglichkeit haben, dem Krieg zu entkommen.

    Der gesamte Gazastreifen ist flächenmäßig kleiner als Köln und zwei Millionen Menschen stecken dort fest. Neun von zehn Menschen haben ihr Zuhause verloren, etwa ein Prozent der Bevölkerung wurde getötet.

    Aus meiner Sicht sind ein sofortiger Waffenstillstand und ein Ende der Blockade unbedingt nötig, um humanitäre Hilfe zu ermöglichen, bevor es völlig zu spät ist.
    Das Interview führte Marcel Burkhardt.

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