Militär-Experte: Rascher Nato-Beitritt der Ukraine denkbar

    Verzweifelte Lage an der Front:Experte: Sogar Ukraines Nato-Beitritt denkbar

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    Kiew steht massiv unter Druck, es fehlt an allem. Bis westlicher Nachschub kommt, gewinnt Russland an Boden. Experte Sauer hält daher sogar die rasche Nato-Aufnahme für denkbar.

    Frank Sauer zugeschaltet via Zoom
    Sehen Sie hier das Interview mit Militärexperte Frank Sauer in voller Länge.18.04.2024 | 33:07 min
    Für die Armee der Ukraine wird die Lage an der Front immer verzweifelter. Es fehlt an Munition, Raketen, Artillerie und Panzerabwehrwaffen. Und an Soldaten. Präsident Selenskyj fleht um Hilfe und appelliert an die Nato, zu handeln. Was Kiew jetzt braucht und welche Chancen momentan Friedensverhandlungen mit Russland hätten, erklärt der Militär-Experte Frank Sauer.
    Sehen Sie oben das ganze Gespräch im Video und lesen Sie unten die wichtigsten Auszüge.
    Das sagt Frank Sauer zu ...

    ... der aktuellen Lage der Ukraine

    "Die Lage ist sogar extrem ernst", betont der Experte. Das habe damit zu tun, dass es auch seitens der Ukraine an wesentlichen Dingen mangele. "Das eine ist Personal, das andere ist aber auch Munition".
    "Also ich würde es so beschreiben, dass wir gerade in einem Zeitfenster existieren, das sich für Russland aufgetan hat", erklärt Sauer weiter. In diesem Zeitfenster versuche Russland, die beiden Gebiete Donezk und Luhansk komplett zu erobern. Das sei für die Ukraine wiederum extrem schwierig.
    Ihr nämlich, erklärt Sauer, fehle es an allem und "bis unsere Rüstungsindustrie wieder etwas nachliefern kann, nutzt Moskau die Lage, um sich alles, was geht, zu schnappen". In diesem Zeitfenster dürfte Russland vermutlich Ende Mai/Anfang Juni eine weitere größere Offensive starten. Die Verbündeten müssten "deutlich umfangreicher nachbestellen, zum Beispiel Panzer oder den Taurus. Da ist erstaunlich wenig passiert".
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    ... zur Ursache des ukrainischen Munitionsmangels

    "Es ist nicht so", sagt Frank Sauer, "als wollten wir nicht liefern". Deutschland habe ein Viertel seiner Patriots abgegeben und auch in anderen Ländern wie Japan oder Südkorea ist das System im Einsatz. Es gebe schon Orte, wo man gucken könnte, ob man noch ein oder zwei Systeme abgeben könnte. Ein wesentlicher Produzent von Munition seien die USA, doch deren Hilfslieferung "steckt gerade im Kongress fest". Da sei man wieder bei dieser Lücke: "Wir haben zu lange gebraucht, um bestimmte Dinge anzuschieben wie eben die Munitionsproduktion. Und das zeigt sich jetzt".  
    Wie dringend der Mangel an Ausrüstung und Ausstattung der ukrainischen Soldaten ist, sehe man an einer Anekdote: Für fünf Granaten, die Russland verschießt, könnte Kiew gerade mal eine zurückschießen.
    "Das sind nackte Zahlen", aber wie die Lage wirklich ist, sehe man an diesem Beispiel: "Es gibt wohl", sagt Sauer, "Leute an der Front, die extra dafür abgestellt sind, verlassene russische Stellungen nochmals abzugrasen, ob man nicht noch ein oder zwei Granaten findet, die man für die eigenen Geschosse verwenden kann. So angespannt ist die Lage!"
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    ... zu einer Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato

    Dass gerade vermehrt Gedankenspiele zu einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine kursieren, sind, laut Sauer, "Ausdruck der Tatsache, dass wir in Europa eine echte Zeitenwende brauchen". Der Frieden sei auch nicht stabil geblieben, nachdem Präsident Wladimir Putin die Krim annektiert und den Donbass besetzt hatte.
    "Im Gegenteil, die Ukraine hat 2022 die Vollinvasion bekommen", so Sauer. Daher seien nun Reaktionen im Gespräch, die wir vielleicht vor ein paar Jahren noch für unmöglich gehalten hätten.

    Frank Sauer
    Quelle: Bundeswehr Universität München

    ... ist Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Atomwaffen, nukleare Abschreckung und der Einsatz Künstlicher Intelligenz im Militär. Gemeinsam mit anderen Sicherheitsexpert*innen diskutiert Sauer im Podcast "Sicherheitshalber" die aktuellen Entwicklungen in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Lage in Europa und der Welt.

    Das seien Dinge, "die wir uns lange nicht eingestehen wollten - eine Verschiebung von Grenzen mit imperialer Attitüde". "Zeitenwende" bedeute auch, "dass wir Dinge anders machen müssen, als wir das bisher gemacht haben". Deswegen halte er solche Überlegungen, dass "man die Ukraine schnell, in irgendeiner Form, aufnehmen könnte, für denkbarer, als es vor Kurzem noch der Fall war". 
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    .. zur Chance auf Friedensgespräche

    Es sei sehr wichtig, ein Missverständnis aufzulösen: "Es gibt keinen Gegensatz zwischen Verhandlungen und Waffenlieferungen. Wir müssen verstehen, dass wir nur zu Verhandlungen kommen, wenn wir vermehrt Waffen liefern." Das sei ja auch "so eine Lernkurve gewesen". Man habe sich in Russland und in Präsident Putin "parteiübergreifend Jahre und Jahrzehnte lang getäuscht in Deutschland".
    Moskau respektiere nur Stärke. Deswegen könne die Ukraine nur eine Waffenruhe und Frieden erreichen, wenn sie aus einer Position der Stärke heraus mit Putin verhandele. "Und da sind wir gefragt. Diese Position müssen wir mitschaffen."
    Denn es sei in der russischen Politik "relativ klar, ein Muster zu erkennen. Ein Muster, und das sagt Putin ja auch sehr klar, das darauf hinausläuft, ein Großreich Russland in Europa neu zu schaffen. Und das sind seine Ambitionen".
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    "Diese Bedrohung wird nicht weggehen", erklärt Sauer weiter. Die Existenz des Putin-Regimes ist, so Sauer, "inzwischen untrennbar verknüpft mit dieser Kriegsführung. Der Krieg, der fortgesetzte Krieg und der anti-westliche Kurs sind die Existenzgrundlage der Putin-Herrschaft."
    Und deswegen, fürchtet er, werde das alles Deutschland "eben die nächsten paar Jahre noch auf jeden Fall beschäftigen".
     

    Wir müssen uns damit abfinden, eine Rückkehr zum Status quo vor dem 24. Februar 2022 mit Putins Russland nicht möglich ist. 

    Frank Sauer, Militärexperte

    Das Interview führte ZDFheute-live-Moderatorin Christina von Ungern-Sternberg. Zusammengefasst hat es Elisabeth Jändl.
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    Quelle: ZDF

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