Belgorod: Wie Anti-Putin-Russen für die Ukraine kämpfen
Angriff in Belgorod:Wie Anti-Putin-Russen für die Ukraine kämpfen
von Christian Mölling, András Rácz
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In die russische Region Belgorod nahe der Ukraine sind Russen eingefallen, die sich gegen den Kreml stellen. Um welche Gruppen es sich handelt und was das Ziel der Aktion ist.
Angriff auf die russische Grenzregion Belgorod: Eine kleine Aktion mit großer Wirkung für den Kreml.
Quelle: epa
Bewaffnete Gruppen sind am 22. Mai aus der Ukraine in die Region Belgorod in russisches Gebiet eingedrungen und besetzten vorübergehend einige kleine Dörfer und die Kleinstadt Grayvoron. Es gelang ihnen offenbar, die russischen Grenzsoldaten zu überraschen und zu überrennen und einige von ihnen gefangen zu nehmen. Während des Einmarsches benutzten sie von der Ukraine eingesetzte Militärfahrzeuge, von denen einige vom Westen geliefert wurden.
Die Operation, die in Wirklichkeit kaum mehr als ein kleines Grenzgefecht ist, fand in den Medien sowohl in der Ukraine als auch in Russland und in anderen Teilen der Welt große Beachtung. Die Ukraine nutzte die sozialen Medien geschickt, um die Bedeutung des Angriffs hervorzuheben und sich über die angeblich inkompetenten russischen Streitkräfte lustig zu machen.
Milizen mit rechtsextremem Hintergrund
Das "Russische Freiwilligenkorps" trat im März mit der Behauptung in Erscheinung, in der Grenzregion Brjansk erstmals nach Russland eingedrungen zu sein. Angeführt wird es von Denis Nikitin (eigentlich Kapustin), einer bekannten Figur in der Hooligan- und rechtsextremen Szene. Der gebürtige Russe Kapustin hatte seinen Wohnsitz nach Angaben des Landesverfassungsschutzes fast 20 Jahre lang in Nordrhein-Westfalen, seine Aufenthaltserlaubnis erlosch aber 2019. Demnach lebt er seit 2019 in der Ukraine. Russland stuft ihn als "Terroristen" ein. Zu Kriegsbeginn habe Kapustin auf seinem Kanal im Onlinedienst Telegram auf Deutsch und Englisch dazu aufgefordert, in die Ukraine zu kommen, um an der Seite Kiews zu kämpfen, heißt es im Verfassungschutzbericht 2022.
Der Gründer der rechtsextremistischen Kampfsportmarke "White Rex" tauchte schon in den Jahren zuvor in den Berichten der Behörde mit seinem Label als Organisator von Kampfsport-Veranstaltungen auf: Mit "White Rex" sei er "europaweit aktiv" und habe "maßgeblich dazu beigetragen, "die rechtsextremistische Kampfsportszene zu professionalisieren", schreibt die nordrhein-westfälische Behörde etwa im Jahr 2019. Kapustin habe auch Kampfsporttrainings in Deutschland und anderen europäischen Ländern angeleitet.
Auch die zweite am Angriff in Belgorod beteiligte Miliz, die Anfang 2022 gegründete Truppe "Freiheit Russlands", wird von Moskau als "terroristisch" eingeordnet. Ihr politischer Anführer ist der ehemalige russische Parlamentsabgeordnete Ilja Ponomarjow, der 2014 als einziger gegen die Annexion der Krim gestimmt hatte und anschließend in die Ukraine auswanderte.
In der Berichterstattung der ukrainischen Medien über den jüngsten Angriff in Belgorod stand ein Vertreter der Miliz mit Decknamen "Caesar" im Vordergrund. Die Nachrichtenagentur AFP hatte ihn im Dezember an der Ostfront der Ukraine interviewt. Er kämpfe "gegen das Regime von Wladimir Putin", sagte er damals und bezeichnete sich als russischen Patrioten und "rechten Nationalisten". Er stamme aus St. Petersburg und sei Physiotherapeut. Das russische Investigativ-Portal Agentstvo rechnet ihn der rechtsextremen nationalistischen Szene zu.
Beide Gruppen geben an, über hunderte Kämpfer zu verfügen.
Quelle: AFP
Mit diesem Angriff gelang es Kiew auch, die öffentliche Aufmerksamkeit - sowohl im In- als auch im Ausland - von der Tatsache abzulenken, dass Bachmut laut Kreml nach fast zehnmonatiger Verteidigung gefallen ist.
Belgorod: Eingedrungene Russen kämpfen für die Ukraine
Die ukrainische Regierung behauptet, dass es sich bei den Kämpfern, die nach Russland eindrangen, ausschließlich um Russen handelte, sodass dies eine russische Operation gegen das Putin-Regime sei. Kiew hatte wiederholt erklärt, dass die kremlfeindlichen Russen auf eigene Faust gehandelt haben.
Das ist nicht komplett falsch. Unter den Angreifern, die nach Russland einmarschiert sind, gibt es zwei Formationen, die sich aus ethnischen Russen zusammensetzen, aber auf der Seite der Ukraine kämpfen. Bei der einen handelt es sich um die "Legion der Freiheit Russlands", bei der anderen um das "Russische Freiwilligenkorps". Ihre Gesamtzahl liegt wahrscheinlich bei mehreren Hundert, aber die Gruppe, die nach Russland übergesetzt ist, war offensichtlich kleiner.
Operation wohl nicht ohne Zustimmung Kiews
Es scheint sich also um eine von der Ukraine genehmigte Operation zu handeln. Der Grund dafür ist, dass beide beteiligten russischen Verbände integraler Bestandteil der ukrainischen Streitkräfte sind und dem ukrainischen Kommando unterstehen.
Die "Legion der Freiheit Russlands" ist Teil der "Internationalen Legion des Territorialen Verteidigungskommandos der Ukraine", und ihre Mitglieder sind offiziell Vertragssoldaten. Das "Russische Freiwilligenkorps" untersteht Berichten zufolge der 108. Brigade der ukrainischen Streitkräfte und wäre somit eine reguläre Militäreinheit.
Quelle: DGAP
... leitet das Programm "Europas Zukunft" für die Bertelsmann Stiftung in Berlin. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Es ist äußerst schwer vorstellbar, dass zwei Einheiten der ukrainischen Streitkräfte unabhängig voneinander und willkürlich beschließen könnten, Russland anzugreifen und Teile seines Territoriums zu übernehmen, ohne dass ihre Befehlshaber eine eindeutige Ermächtigung erteilt hätten.
Die ukrainische Leugnung hat wahrscheinlich auch etwas von Trolling. In der Tat ähnelt die Art und Weise, wie die Ukraine über diese Operation kommuniziert, stark dem Vorgehen, wie Russland acht Jahre lang offiziell seine Beteiligung an den Aufständen im Donbass geleugnet hat.
Moskau spielt den Vorfall herunter
Der Einmarsch hat bisher kein sichtbares Eskalationspotenzial. Russland beabsichtigt offenbar, ihn herunterzuspielen, anstatt zu eskalieren. Hätte Russland eine Eskalation gewollt, hätte Moskau das Militärbündnis "Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit" sowie die militärische Komponente des Unionsstaates mit Belarus mobilisieren oder einen Teil seiner Nuklearstreitkräfte zur Abschreckung demonstrativ verlegen können. Außerdem hätte der Überfall sogar als Vorwand für eine weitere Mobilisierungswelle dienen können. Doch nichts von alledem ist geschehen.
Kämpfe in Grenzregion Belgorod: Was ist geschehen?
Stattdessen behandelt Russland den Fall als einen Akt des Terrorismus, ähnlich wie die Aktionen der tschetschenischen Rebellen während der Tschetschenienkriege. Durch die Verwendung des Begriffs "Terrorismus" kann der Kreml vermeiden, zuzugeben, dass ukrainische Streitkräfte erfolgreich russisches Hoheitsgebiet angegriffen haben. Moskau hat Einheiten der Nationalgarde (Rosgwardija) eingesetzt, um gegen die Angreifer vorzugehen.
In Anbetracht der großen Reserven der Rosgwardija ist es sehr wahrscheinlich, dass der Überfall bald beendet sein wird. Dennoch war dies ein schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit der russischen Streitkräfte im Allgemeinen und des Grenzschutzes im Besonderen.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.