Ukraine-Krieg: Was Putin mit der Charkiw-Offensive will
Analyse
Angriffe in Nordost-Ukraine:Putins Taktik hinter der Charkiw-Offensive
von Christian Mölling und András Rácz
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In Charkiw hat Russland eine neue Front eröffnet und Dörfer erobert. Die Einnahme der Stadt scheint dabei aber nicht das tatsächliche Ziel Putins zu sein - das liegt woanders.
Im Bereich Wowtschansk in der ostukrainischen Region Charkiw haben russische Truppen mehrere Ortschaften eingenommen. Über 4.000 Zivilisten mussten bereits evakuiert werden.12.05.2024 | 1:20 min
Seit dem 10. Mai hat die russische Armee eine neue Frontlinie gegen die Ukraine eröffnet. Russische Streitkräfte, vor allem mechanisierte Infanterie, überquerten die Grenze nordöstlich der Stadt Charkiw.
Nach intensiven Artillerie- und Luftangriffen, darunter auch Gleitbomben, besetzten die russischen Truppen rasch eine Reihe kleiner Dörfer in der Grenzregion. Die Ortschaften Strilecha und Pil'na nördlich von Charkiw fielen bereits am ersten Tag.
Die ukrainischen Streitkräfte in der Region waren nicht in der Lage, den russischen Angriff aufzuhalten, sondern zogen sich zurück und verließen sich auf Artillerieangriffe, um die vorrückenden russischen Kolonnen zu verlangsamen.
Angriffe auf Wowtschansk - Befestigung zur Verteidigung fehlt
Ab dem 11. Mai griffen russische Verbände die Region auch an einem anderen Punkt östlich des ersten Vorstoßes an. Nachdem Russland drei kleine Dörfer eingenommen hatte, griff es die Stadt Wowtschansk östlicher von Strilecha und Pil'na an.
Das offene Gelände in Verbindung mit der Überlegenheit der Artillerie und dem vorherrschenden Mangel an Artilleriemunition auf ukrainischer Seite begünstigte die Angreifer. Trotz der ständigen Bedrohung durch erneute russische Angriffe war die ukrainische Seite des Grenzgebiets anscheinend überhaupt nicht befestigt.
Die Autoren
...ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.
Quelle: DGAP
...ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Wowtschansk hatte vor dem Krieg etwa 17.000 Einwohner, aber das Fehlen geeigneter Befestigungen macht die Stadt sowohl für Frontalangriffe als auch für Einkreisungsmanöver äußerst anfällig.
Bemerkenswert ist, dass die Russen hier an beiden Ufern des Flusses Siwerskyj Donez vorrücken und sich demonstrativ keine Sorgen über einen möglichen ukrainischen Gegenangriff machen, der ihre Flanken bedrohen könnte.
Russland nimmt immer mehr Ortschaften im ukrainischen Wowtschansk ein. Bereits 4.000 Menschen aus der Region mussten ihre Heimat verlassen, um Zuflucht in Charkiw zu finden.12.05.2024 | 2:16 min
Russland könnte Truppen verstärken
Bislang hat Russland nur begrenzte Kräfte für die beiden neuen Einsätze bereitgestellt. Etwa drei bis vier Bataillone russischer Truppen waren hier in die Kämpfe verwickelt, darunter auch eine Reihe von Sturm-Z-Einheiten, die sich aus Sträflingen zusammensetzen.
Auf der anderen Seite der Grenze gibt es jedoch beträchtliche russische Reserven, die sich auf etwa 30.000 Mann belaufen. Angesichts des Erfolgs der ersten Angriffe könnte die russische Militärführung daher durchaus beschließen, die Angriffe zu verstärken und mehr Truppen hier einzusetzen, um tiefer in die Ukraine vorzudringen.
"Die Ukraine ist ein Stück weit überrascht vom Vorstoß der Russen", so Luc Walpot, ZDF-Reporter in Kiew. Die Situation für die Ukraine sei angespannt, da sie lange auf "Munition warten musste".13.05.2024 | 3:40 min
Ziel Russlands offenbar nicht Einnahme Charkiws
Was die möglichen Ziele der russischen Angriffe betrifft, so reichen die russischen Streitkräfte in diesem Gebiet bisher nicht für einen Großangriff auf Charkiw mit dem Ziel der Einnahme der Stadt aus. Höchstwahrscheinlich ist das eigentliche Ziel der beiden neuen Angriffe ein anderes.
In erster Linie beabsichtigt Russland offenbar, die ukrainischen Streitkräfte zu spalten und Kiew zu zwingen, zusätzliche Truppen in diese Region zu entsenden, um so die ukrainische Verteidigung im Donbass zu schwächen. Dies würde die ohnehin knappen personellen Ressourcen der Ukraine weiter überfordern.
Die Stadt Charkiw war zu Beginn des Krieges unter russischer Besatzung. Wie groß die Angst vor einer erneuten Eroberung ist, schätzt ZDF-Korrespondent Luc Walpot aus Charkiw ein. 11.05.2024 | 1:23 min
Sollten die Russen tiefer in die Region Charkiw vordringen, könnten sie versuchen, nahe genug an Charkiw heranzukommen, um die Stadt in die Reichweite ihrer konventionellen Rohrartillerie und ihrer BM-21-MLRS-Systeme zu bringen.
Dann würden aus den derzeit täglich zwei bis fünf Angriffen auf Charkiw plötzlich mehrere Hunderte, wenn nicht Tausende werden, da die russische Artillerie die Stadt unter Beschuss nehmen würde.
Tag und Nacht steht die ukrainische Großstadt Charkiw unter Beschuss. Ein kleiner Teil der Truppe des Opernhauses tritt jedoch im Bunker auf. 06.05.2024 | 6:31 min
Dies allein würde natürlich nicht zum Fall von Charkiw führen, aber es würde die Lebensbedingungen in der Stadt erheblich verschlechtern und damit zu einer neuen Flüchtlingswelle beitragen.
Russland könnte die Verteidigung von Kupjansk erschweren
Sollte Russland in der Lage sein, Wowtschansk einzunehmen und ungehindert weiter nach Süden und Südosten vorzudringen, könnte es längerfristig die linke Flanke der ukrainischen Streitkräfte, die Kupjansk verteidigen, bedrohen.
Dazu müssten sie jedoch noch fast 100 Kilometer vorrücken und mindestens ein Dutzend Siedlungen einnehmen, wofür sie bisher nicht genügend Truppen aufgestellt haben. Stand jetzt erscheint das deshalb unwahrscheinlich.
Seit Sonntag entwickelt sich die Lage rund um die beiden russischen Angriffe rasch und viel dynamischer als anderswo im Donbass. Weiterhin ist eine genaue Beobachtung der Lage notwendig, um die Bewertung der Angriffe auf dem neuesten Stand zu halten.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.