Analyse
Kaum noch Munition:Ukraine: So kritisch ist die Lage an der Front
von Christian Mölling, András Rácz
Die Folgen des monatelangen Mangels an Munition für Artillerie und Flugabwehr schlagen nun voll durch. Infrastruktur und Verteidigung der Ukraine sind schwer getroffen.
Munitionsmangel macht der Ukraine schwer zu schaffen.
Quelle: picture alliance / Anadolu
Wegen der anhaltenden Verzögerung der Militärhilfe aus den
USA für die Ukraine haben die Verteidiger einen kritischen Mangel an bestimmten Munitionstypen erlitten. So sind die Vorräte an Artilleriegranaten so knapp geworden, dass die russische Artillerie in bestimmten Abschnitten der Frontlinie eine Überlegenheit von 1:20, manchmal sogar 1:40 hat.
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Munitionsmangel: Panzerkolonnen schwerer zu verteidigen
Insbesondere hochexplosive Granaten, die für die Ausschaltung von Panzern und gepanzerten Fahrzeugen notwendig sind, sind Mangelware. Wie der jüngste russische Panzerangriff auf Krasnohoriwka zeigt, können Panzerkolonnen zunehmend offene Felder überqueren, weil die
Ukraine nicht über die nötigen Granaten verfügt, um sie auszuschalten.
Aufgrund der Rationierung können einige ukrainische Geschütze an weniger aktiven Abschnitten der Frontlinie nur ein bis zwei Granaten pro Woche abfeuern.
Deutschland wolle versuchen, "weitere Flugabwehr für die Ukraine aufzutreiben", sagt ZDF-Hauptstadtkorrespondent Andreas Kynast.18.04.2024 | 2:40 min
Selbst primitive russische Angriffe erfolgreich
Und: Wegen des kritischen Mangels an Artilleriemunition wird selbst die primitive russische Taktik, einfach Wellen von schlecht ausgebildeten und ausgerüsteten Männern einzusetzen, immer effektiver: Da die ukrainische Artillerie sie nicht ausschalten kann, bevor sie die ukrainischen Stellungen erreichen, zwingt die schiere russische Anzahl die Ukrainer zum Rückzug, sobald sie in die Nähe der Gräben der Verteidiger gelangen.
Ohne Artilleriegeschosse ist die Ukraine nicht in der Lage, aus dem immer deutlicher werdenden Mangel an gepanzerten Mannschaftswagen in Russland Kapital zu schlagen. Immer mehr russische Angriffe werden mit nur notdürftig gepanzerten Lkw und manchmal sogar mit geländegängigen Buggys und Motorrädern durchgeführt - doch ohne eine funktionierende Artillerie kann die Ukraine auch diese nicht richtig neutralisieren.
FPV-Drohnen, die in großer Zahl eingesetzt werden, bieten teilweise Abhilfe, insbesondere gegen ungepanzerte Ziele. Gegen Wellen angreifender Infanterie, insbesondere bei schlechtem Wetter, sind sie aber weit weniger effizient.
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Ukraine: Luftverteidigung nur noch stellenweise möglich
Bei den modernen Flugabwehrwaffen, also sowohl bei den Raketen als auch bei den Trägersystemen, ist die Lage noch schlechter. Von den drei
Patriot-Batterien, über die die Ukraine verfügte, wurde eine beschädigt, zwei ihrer Abschussvorrichtungen wurden kürzlich durch einen russischen Angriff zerstört. Der Rest, selbst in Kombination mit den wenigen Batterien französisch-italienischer SAMP/T- und deutscher IRIS-T-Raketen, über die die Ukraine verfügt, reicht eindeutig nicht aus, um das Land gegen Russlands moderne ballistische Raketen und Marschflugkörper zu verteidigen.
Moskau hat gelernt, seine Angriffe geografisch zu streuen, indem es an einem Tag Charkiw, am nächsten Tag Lwiw und danach Tschernihiw angreift und so die Lücken in der ukrainischen Luftabwehr ausnutzt. Das Land ist einfach zu groß, um mit den wenigen modernen Flugabwehrraketenwerfern, über die die Ukraine verfügt, angemessen verteidigt werden zu können - insbesondere wenn die Raketen knapp sind.
Zudem ist
Russland in der Lage, diese Luftabwehr lokal zu überwältigen und zu durchdringen. Das Schicksal des Trypilska-Kraftwerks in der Region Kiew hat dies deutlich gezeigt: Der ukrainischen Luftabwehr gelang es zwar, die ersten ankommenden russischen Raketen abzuschießen, doch danach gingen ihr lokal die Raketen aus, so dass die verbleibenden vier russischen Kh-69 das Kraftwerk direkt trafen und es vollständig zerstörten.
Nach den jüngsten Luftangriffen auf die Ukraine hat Selenskyj eindringlich um Hilfe bei der Luftabwehr gebeten. Nato-Generalsekretär Stoltenberg unterstützt die Forderung.17.04.2024 | 1:42 min
Strategisch relevante Schädigung absehbar
Während die ukrainischen Streitkräfte Flugabwehrkanonen gegen russische Drohnen in Stellung bringen und dabei auch die in Deutschland hergestellten Gepards sehr effizient einsetzen, können sie gegen Hochgeschwindigkeits-Marschflugkörper und ballistische Raketen nichts ausrichten.
Wenn der Westen die Ukraine nicht mit wesentlich mehr modernen Luftabwehrraketen und Trägersystemen versorgen kann, wird die zivile und militärische Infrastruktur der Ukraine strategische irreparable Schäden erleiden, die bald den Kern der Kriegsanstrengungen betreffen könnten.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.