85 Jahre Pogromnacht: Gesellschaftlicher Dialog in Gefahr?

    Gedenken an 85 Jahre Pogromnacht:Gesellschaftlicher Dialog in Gefahr?

    von Ricarda Lehle
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    Nach dem Angriff der Hamas auf Israel ist die Stimmung zum Gedenken an die Pogromnacht vor 85 Jahren in diesem Jahr angespannter. Ein Blick nach Thüringen.

    Archiv: Die Alte Synagoge, aufgenommen am 26.07.2010 in Erfurt.
    Die Alte Synagoge, in Erfurt: Angespannte Stimmung in der jüdischen Landesgemeinde
    Quelle: dpa

    Noch im September herrscht Feierlaune in der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen: Die Unesco ernennt die Alte Synagoge und weitere Stätten in Erfurt zum Weltkulturerbe. Dass jüdisches Leben selbstverständlich seit Jahrhunderten zu Erfurt gehört, sei dadurch noch einmal betont worden, so Reinhard Schramm, Vorsitzender der Landesgemeinde.
    Seit dem 7. Oktober aber ist die Lage durch die antisemitischen Terrorakte in Israel und die Demos in Deutschland geprägt. Viele der rund 650 Thüringer Gemeindemitglieder haben Angst um Familie und Freunde in Israel. Und viele sind sensibler geworden.
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    Hamas-Terror soll am runden Tisch tabu sein

    Wenige Tage nach dem Angriff der Hamas kommt im Oktober eine Einladungsmail bei der Jüdischen Landesgemeinde an - für ein Treffen des Runden Tisches der Religionen Erfurt. Seit April erst gibt es diesen Dialog, bei dem unter anderem Juden, Christen und Muslime zusammenkommen. Doch laut Einladungstext soll nun die "internationale Politik" nicht thematisiert werden. Den 7. Oktober nennt Schramm den "Tag des Pogroms" und ist fassungslos:

    Das ist eine gewisse Art von Rücksichtslosigkeit den Juden, uns gegenüber. (…) Nach diesen Vorkommnissen in Israel und Berlin müsste es eine eindeutige Stellungnahme geben der muslimischen Teilnehmer, dass das Pogrom in Israel am 7. Oktober ein Verbrechen ist, von dem sie sich direkt distanzieren.

    Reinhard Schramm, Jüdische Landesgemeinde Thüringen

    Anfang November erklärt Schramm den Austritt der Jüdischen Landesgemeinde aus dem Netzwerk. Auch wenn der Sprecher des Runden Tisches, Eckehart Schmidt, betont, das sei ein Missverständnis. "Ich möchte auf keinen Fall die abscheulichen Verbrechen der Hamas verschweigen."

    Entsetzen im Großen, Gutes im Kleinen

    Der Schritt der Landesgemeinde, Esther Goldberg kann ihn nachvollziehen. Die Journalistin, die unter anderem für die Jüdische Allgemeine schreibt, hat enge Verbindungen zur Landesgemeinde. Sie nimmt die Stimmung dennoch differenziert wahr:

    Ich unterscheide zwischen dem, was gesellschaftlich passiert. Da bin ich auch sehr entsetzt. Und dem, was im Kleinen, im Zwischenmenschlichen passiert. Da bin ich nicht entsetzt, da erlebe ich einfach nur Gutes im Miteinander, egal wer.

    Esther Goldberg, Journalistin

    Von guten zwischenmenschlichen Kontakten kann auch Christian Faludi berichten, Leiter der Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte (GEDG). Beim Projekt "Klang der Stolpersteine" in Weimar gedenken Chöre mit jiddischen Liedern am 9. November der Opfer des Nationalsozialismus.
    Flagge von Erfurt als UNESCO-Erbe, Erfurt 17.09.2023
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    Chorprobe unter Polizeischutz

    Die öffentliche Probe Ende Oktober ist mit 180 Menschen deutlich besser besucht als erwartet - obwohl die Räume aufgrund der diffusen Gefährdungslage von der Polizei abgesichert werden. Viele, so Faludi, wollen jetzt etwas tun und ein Zeichen setzen. Doch es schwingen Sorgen mit.

    Wenn (…) die Polizei bei einer Chorprobe vor der Tür steht, weil in Israel gerade ein Konflikt ausgebrochen ist, dann kann das ja Menschen am Ende eigentlich nur verunsichern.

    Christian Faludi, Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte

    Für die Juden in Thüringen treffen diese Entwicklungen auf eine Lage, die ohnehin schon angespannt war. Auf dem Ettersberg bei Weimar ist die Gedenkstätte Buchenwald. Am Eingang das Tor mit der Inschrift "Jedem das Seine". Knapp 10.000 jüdische Männer mussten es 1938 nach den Novemberpogromen passieren, als sie in das Konzentrationslager verschleppt wurden.
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    Gossels, Abraham, Casper - Namen an einer Klingeltafel im Prenzlauer Berg, Berlin. Sie erinnern an vormalige jüdische Bewohner. Simon Lütgemeyer hat die Schicksale recherchiert.09.11.2023 | 2:36 min

    Gedenkstätte: Übergriffe haben stark zugenommen

    In diesem Jahr haben die Übergriffe auf die heutige Gedenkstätte stark zugenommen. Seit dem Sommer komme es wöchentlich, teilweise sogar täglich zu Vorfällen, so Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

    Man muss aber deutlich sagen: Das hat relativ wenig mit dem Überfall der Hamas auf Israel und den Demonstrationen, die einen migrantischen Hintergrund haben, in den größeren deutschen Städten zu tun.

    Jens-Christian Wagner, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

    "Sondern die Übergriffe, mit denen wir hier konfrontiert sind, haben einen klassischen rechtsextremen Hintergrund." Wagner stellt das auch politisch in einen Kontext mit den aktuell hohen Umfragewerten der AfD, besonders hier in Thüringen.
    Verschollene Bilder Pogromnacht
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    Historiker sieht Parallelen zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg

    Geschichte wiederhole sich zwar nicht, sagt der Historiker Christian Faludi, aber auch er beobachtet Parallelen zu gesellschaftlichen Entwicklungen in den Jahren vor 1938:

    Diese Dynamiken, also die schrittweise Gewöhnung und das Verschieben der Dinge, die gesagt und gemacht werden können, sind durchaus vergleichbar.

    Christian Faludi, Historiker

    Im Freistaat Thüringen waren die Nationalsozialisten 1930 zum ersten Mal an einer Regierung beteiligt. "Gedenken braucht Wissen", sagt Jens-Christian Wagner, und Austausch. Reinhard Schramm will weiter im Dialog bleiben, auch wenn er zunächst an dem Austritt aus dem interreligiösen Netzwerk festhält. Dieser 9. November ist auch in Thüringen ein besonders schwieriger Tag.

    Zentralrat der Juden
    :Schuster: Jüdisches Leben ist massiv bedroht

    Die Terror-Attacke der Hamas hat das jüdische Leben in Deutschland verändert, sagt Zentralratspräsident Schuster. Antisemitismus sei in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.
    Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

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