Bildungsexperte kritisiert Programm für Brennpunkt-Schulen

    Interview

    Programm für Brennpunkt-Schulen:Experte: "20 Milliarden lösen Problem nicht"

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    20 Milliarden Euro für 4.000 Brennpunktschulen: Damit wollen Bund und Länder in zehn Jahren die Schieflage wieder ins Lot bringen. Bildungsexperte Köller sagt: Das ist zu wenig.

    Archiv: Schulranzen stehen in einer Grundschule
    Das neue Programm von Bund und Ländern soll sozial benachteiligte Kinder und Jugendlichen bessere Bildungschancen ermöglichen.
    Quelle: dpa

    "Ein Meilenstein", sagt Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). Mit dem neuen Startchancen-Programm der Bundesregierung soll eine Schieflage beseitigt werden: Nämlich, dass Bildung und Lernerfolg von der sozialen Herkunft abhängt. Über zehn Jahre lang wollen Bund und Länder nun gezielt Schulen fördern, vor allem Grundschulen. Es sei der Einstieg in eine "bildungspolitische Trendwende", sagte Stark-Watzinger am Dienstag.
    Olaf Köller ist weniger euphorisch. Der Kieler Bildungsexperte und Vorsitzende der Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz hält die veranschlagten 20 Milliarden Euro für die kommenden zehn Jahre für zu wenig.

    • Mit dem Startchancen-Programm werden in den nächsten zehn Jahren 4.000 Schulen gefördert, die von vielen sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler besucht werden. Begonnen wird mit 2.060 Schulen, hauptsächlich mit Grundschulen.
    • Finanziert wird das Programm von Bund und Ländern, die pro Jahr jeweils eine Milliarde Euro geben.
    • Das Programm startet am kommenden Schuljahr. Das Land hat festgelegt, welche Schulen von dem Programm profitieren werden.
    • Wofür die Fördergelder ausgegeben werden, ist festgelegt: 40 Prozent sollen für die Verbesserung der Infrastruktur an den Schulen, 30 Prozent für gezielte Förderung in den Fächern Deutsch und Mathematik und 30 Prozent für mehr Personal und multiprofessionelle Teams ausgegeben werden, damit zum Beispiel mehr Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen eingestellt werden können.

    ZDFheute: Kann das neue Programm der Bundesregierung sozial benachteiligten Kindern gleiche Startchancen geben?
    Olaf Köller: Das Startchancen-Programm ist ein wichtiger Schritt, weil die Probleme von Schulen damit deutlich an Aufmerksamkeit in der Politik gewinnt und in den nächsten zehn Jahren haben wird. Gleichwohl wird man mit 20 Milliarden Euro in zehn Jahren die großen Probleme, dass nämlich Jugendliche mit 15 Jahren kaum lesen, schreiben und rechnen können, sicherlich nicht lösen.

    Man braucht pro Jahr das Fünf- bis Zehnfache, um die benachteiligten Schülerinnen und Schüler wirklich zu fördern.

    Olf Köller

    Es wird sicherlich viele Enttäuschungen geben.
    ZDFheute: Hilft gegen die Bildungsmisere denn allein Geld?
    Köller: Es liegt an der Geldmenge, aber natürlich auch an der Verteilung des Geldes. Das Programm sieht drei Säulen vor: Baumaßnahmen, Schulsozialarbeit und Chancenbudgets, mit denen Schulen selbst besonders benachteiligte Schülerinnen und Schüler fördern können. Die Summe, die jeder Schule zur Verfügung steht, ist nicht so groß, um für die Förderung qualifiziertes Personal zubekommen, mal abgesehen davon, dass es kaum qualifiziertes Personen auf dem Markt gibt.
    Am Ende des Tages wird das Geld möglicherweise nicht ausreichen, um die Basiskompetenzen, Deutsch, Sprache und Mathematik zu fördern.

    Olaf Köller, Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts an der Universität Kiel
    Quelle: Davids/Darme

    ... ist Vorsitzender der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz, die die Länder-Kultusminister berät. Köller ist zudem Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik an der Universität Kiel.

    ZDFheute: Runtergerechnet könnte es nur eine Stelle pro Schule sein.
    Köller: Genau, das ist die Größenordnung. Nun sind viele Grundschulen, die sich am Programm beteiligen, zum Glück nicht so groß. Aber bei großen Schulen, zum Beispiel Sekundarschulen, gibt es schnell über 1.000 Schülerinnen und Schüler. Wir wissen, dass an den großen Schulen oft die besonders leistungsschwachen sind. Da können ein bis zwei zusätzliche Personen wenig ausrichten. Da bin ich sehr gespannt, ob es möglicherweise noch Anpassungen im Programm geben wird.
    Rund 20 Milliarden Euro sollen an etwa 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler fließen.
    In Brennpunktschulen benötigen viele Schüler zusätzliche Förderung, um zum Beispiel Deutsch zu lernen. Entstehende Kosten sollen mit dem Startchancen-Programm gedeckt werden.11.04.2024 | 1:40 min
    ZDFheute: Haben sich deswegen die Bundesländer sehr unterschiedlich an dem Programm beteiligt? Bei manchen hat man den Eindruck, so erpicht sind sie gar nicht auf die Förderung.
    Köller: Es hilft Ländern, die knapp bei Kasse sind. Diese Länder, Stadtstaaten, Nordrhein-Westfalen mit den großen Städten sind sicher dankbar, dass das Programm jetzt kommt, weil sie oft besonders von dem Problem betroffen sind. Aber ich glaube auch, dass sich die Euphorie in Grenzen hält.
    Das mag auch damit zusammenhängen, dass viele das Programm realistisch einschätzen. Und die Ernüchterung wird sich auch fortsetzen, wenn die ersten Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung vorliegen. Man will ja die Zahl der Risikogruppen halbieren. Da kann man mal sehr gespannt sein.

    Alle freuen sich, dass das Programm da ist. Aber natürlich wissen auch alle, dass es Grenzen hat. Das zentrale Problem wird es nicht beseitigen.

    Olf Köller

    ZDFheute: Was würde denn helfen? Sie haben vor eineinhalb Jahren ein Gutachten zum Lehrermangel und dem mangelhaften Wissen von Grundschülern vorgelegt. Viel passiert ist seitdem nicht, oder?
    Köller: Nein. Das Startchancenprogramm ist ja schon im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung 2021 festgehalten worden. So brandneu ist die Idee also nicht. Aber was wir im Gutachten zu den Basiskompetenzen geschrieben haben, hat wenigstens in einigen Bundesländern dazu geführt, dass beispielsweise in den Grundschulen mehr Stunden Deutsch und Mathematik unterrichtet werden.
    Es ist einfach zeitintensiv, noch mehr Lehrkräfte, noch mehr Quereinsteiger ins System zu bekommen und Studiengänge zu ändern. Die demografische Situation ist schwierig, es fehlen einfach die Menschen, die diese Arbeit übernehmen können, wie in allen anderen Bereichen auch die Fachkräfte fehlen. Und man muss natürlich sagen: Die ganze Bildungskrise trifft aktuell auf multiple Krisen.
    Anteil der Quereinsteiger in das Lehramt 2022
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    ZDFheute: Wie meinen Sie das?
    Köller: Politik priorisiert Bildung im Moment nicht, wie sie beispielsweise Militärausgaben als Folge des Kriegs gegen die Ukraine priorisiert. Das Bundesverfassungsgericht hat verboten, 70 Milliarden aus diesem Sonderfonds auszugeben, die Energiewende verschlingt Milliarden, für die Rente sind neue versprochen: Es gibt viele Krisen, die parallel durch die Regierung bedient werden müssen. Da ist die Bildungskrise nur eine von vielen und auch nicht die, die ganz oben auf der Agenda der Politik steht.
    Die nötigen Maßnahmen werden nicht mit dem Tempo umgesetzt, wie wir Geld für das Militär ausgeben. Das passiert natürlich viel mehr.
    Brennpunktschule
    Im Ruhrgebiet ist die Situation an Schulen dramatisch. Weil Lehrer fehlen, müssen immer mehr Unterrichtsstunden ausfallen. Besonders prekär ist das für Brennpunktschulen, wo viele zum Schulstart kaum Deutsch sprechen.14.08.2023 | 1:51 min
    ZDFheute: Das wird sich vermutlich auch so schnell nicht ändern.
    Köller: Vielleicht ist die Bedrohung durch Russland auch noch größer als die Bedrohung durch schwache Schülerinnen und Schüler, aber Spaß beiseite: Es ist nicht nur ein politisches Problem, es ist auch ein gesamtgesellschaftliches Problem.
    Ich wundere mich, warum die Arbeitgeberverbände nicht viel mehr klagen, warum sie nicht viel mehr den Fachkräfte- und Auszubildendenmangel zum Anlass nehmen, mit der Politik viel stärker in den Dialog zu kommen und Bündnisse zu schmieden, wie man aus dieser Misere rauskommen kann. Es ist ein politisches, aber auch ein gesellschaftliches Versagen, dass die Player in System nicht die Bündnisse in dem Ausmaß priorisieren, wie es eigentlich nötig wäre.
    Das Interview führte Kristina Hofmann.
    Prognose: Differenz von Lehrkräfteangebot und Lehrkräftebedarf
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